Madame Kodderschnauze

Niemand soll sterben wollen, nur, weil er allein ist.

Mona lernte Madame über eine Zeitungsannonce kennen. Die las sich ungefähr so: „Begleitperson gesucht: (Doppelpunkt) zuverlässig. (Satzende) hundelieb! (nachgestellter Nebensatz mit Ausrufezeichen)“.

In die Schwärze genug gedruckt für Mona, um auf der Suche nach einer Halbtagsstelle in der Nachbarschaftshilfe ohne zu Zögern zum Hörer zu greifen und der Verfasserin – die sie als Frau G. kennenlernen und die sie später respektvoll und vertraut ‚Madame‘ nennen sollte – eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen.

‚Jemanden begleiten‘ –. Das war dann mal so eine ganz andere Nummer von Hilfe, als sich Mona vorgestellt hatte, bevor sie mit Frau G. das erste Mal am Telefon sprach. Ein bisschen gefasster als ein Telegramm trug ihr die Fremde vor, dass sie eine Frau mittleren Alters sei, halbseitig gelähmt, und dass sie jemanden suche, der ihr im Alltag helfe: „Essen anreichen, zur Toilette begleiten, Wäsche machen“, führte Frau G. beispielhaft auf. ‚Eine Fremde nackt sehen – Strohhalm – durchnässte Laken‘, dachte Mona. Das würde Neuland für Mona sein. Vom Ufer aus winkte Frau G. aber gerade notleidend genug, dass Mona ein „erstes unverbindliches Vorgespräch ohne Bezahlung“ über sich ergehen ließ.

In diesem Gespräch machte Ihr Madame dann ganz persönlich klar, dass sie kein einfacher, behinderter Mensch war. Was Mona aber ebenso schnell einsehen musste, war, dass es ‚Madame‘ schon zu einem heimlichen Spitznamen bei ihr gebracht hatte.

Der ersten Probetag sollte noch kommen und dann war zwischen beiden klar: Sie verstanden sich. Ob sie sich auch vertrügen, sollten andere entscheiden. Tiere zum Beispiel. Madame schlug vor: „Dann können Se doch auch mal mit ihrem Hund vorbeikommen. Dann sehen wir, ob unsere Tiere sich riechen können“. Und so kam es: Auch die Schnauzen passten zusammen und während sich Madame alle naselang mit dem Pflegedienst anlegte, verrichtete Mona ihren neuen Berufsalltag in der Einliegerwohnung einer 52-jährigen Ex-Tanzlehrerin. Das ‚Ensemble‘ wechselte in der Zeit, in der Mona für Madames neuste Choreographie soufflierte, fünf bis sechs Mal – Plié, Knicks und Abtrippeln. Was aber in den ersten Wochen nach jeder Vorstellung mit den Krankenpflegerinnen blieb, das waren Monas vor Nervosität abgekaute Fingernägel und der wonnig dahingesabberte Speichel ihres Labradors.

Mona hatte kein Mitleid mit ihrer neuen Arbeitgeberin. Dafür hatte sie selbst viel zu viele drei angeheiratete Kinder und außerdem noch ganz andere Sorgen. Das war vielleicht auch der Grund, warum sich die Frauen so gut verstanden. Manchmal tat es Mona schon weh, zu sehen, dass die ihr irgendwie Überlegene und doch so Hilfsbedürftige von ihrem Leben einfach abgehalten wurde. Aber deshalb behandelte Mona sie nicht anders, nicht besser, nicht verständiger. Und manchmal sagte sich Mona im Stillen: „Heute hattse wieder ihren Moppertach…“. Dann ließ sie Madame einfach links von ihrem Terrier liegen. Madame und Donna hatten dann zusammen Depressionen und Mona ging mit Don Juan spazieren.

Madame war es wichtig, Ordnung in ihre Dokumente zu bekommen – „für ihre Nachwelt“, wie Mona Madame mit Bewunderung und noch mehr Zuneigung manchmal aufzog. Pedantisch wurden die Akten verwaltet. In Reih und Glied waren sie so beschriftet, „dass auch jeder Blödmann verstehen musste, was da drin ist“, wetterte Mona vorsorglich gegen jeden, der die mühlselig geschaffene Ordnung Madames nicht zu schätzen wissen könnte. Jeder Arzt hatte seine eigene Klamotte auf dem Regalbrett. Eine Patientenverfügung war sogar ganz sicher geschrieben, wie Mona später erfahren sollte –.

Madame setzte sich oft sachlich mit ihrer Lähmung auseinander, die sie so sehr einschränkte. Trotzdem, oder gerade deswegen, hatte Madame beide ihrer alten Spitzenschuhe voll mit Tapferkeit. Mona kam es manchmal vor, als genoss es Madame, ihr Geld auf’n Kopp zu hau’n. Ein Wandteppich wurde angeschafft und Schränke montiert, mit Akkuschrauber und unter der vereinten Beobachtung der Hunde. Telefonkabel wurden durch die Bude verlegt und Hartschalensitze fürs Auto maßanfertigt. Ein neues Telefon mit integriertem Anrufbeantworter wollte Madame, mit extra großen Tasten, „watt aber keine Strahlen macht“– oft musste Mona abends mit ihrem Mann über die halbe Portion schmunzeln, die Madame so in ihrem Jack Woolfskin-Wollstrick abgab, mit all ihren Verschrobenheiten und liebenswerten Ansprüchen.

Unter Monas etwas rauem aber auch weitherzigem Regiment kam Madames liebster Gefährte regelmäßig in den Hundesalon. Mit jeder neuen Fönfrisur für seine grauweiße Naturwelle wuchs das Vertrauen und Mona durfte auch Madame die Haare färben. Neunzig Euro ließ die dafür üblicherweise beim Starfrisör, bis Mona schimpfte, dass das viel zu teuer sei und sich Madame kurzerhand selbst über’s Knie legte.

Die Frauen machten es sich zu einem Juchs, zusammen in die Innenstadt zu laufen und Leute zu gucken. Da war für die Halbwertszeit von zwei Eiskugeln jeder Spasmus vergessen: Da saßen sie rum und lästerten, und beobachteten anderen, die rumsaßen und lästerten.

Damit Madame auch weiterhin würde mitreden können, musste Mona ihr Musik aus den aktuellen Charts besorgen. Ja, damit sie sich nicht vom Rest der Gesellschaft abgehängt fühlen, sich nicht vorgestrig fühlten musste, betraten Madame und Mona einen der letzten Fachhandel für Compact Discs. Hörproben nehmen von Musikdatenträgern war die Mission, denn Madame wollte Männer kennenlernen. Männer, die vielleicht auch etwas für sie tragen könnten –. Ihre Kleider probierte Madame durch, um zu sehen, ob ihr die Teile noch standen.

Das letzte Stück Elan für eine echte Bekanntschaft blieb dann aber für gewöhnlich in einem von Madames Moppertagen stecken, was Ausdruck auf einem ihrer Trinkbecher fand. Bruchsicher, falls Madame zu heftig zitterte, verkündeten dann schon einmal krackelige Buchstaben, sorgfältig mit Edding auf drei Schlücken Saft notiert: MÄNNER SIND SCHWEINE.

Mona hatte Madame einfach lieb gewonnen, diese arme Socke, die sich rührend um sich selbst kümmerte, so gut es eben ging, die bedauernswert wie charismatisch zugleich war; die Ärzte verklagen wollte und kurz vor ihrem Lebensende vielleicht erfuhr, welche Krankheit sie wirklich hatte; die ihre Tage mit Mona immerzu quatschend verbrachte, sobald sich die Tür öffnete und bis sie sich abends nach den wöchentlichen drei mal drei Stunden wieder schloss.

In der ersten Zeit wollte Madame nicht über Privates sprechen, das war ihre Auflage. Die Realität war, dass die Frauen sich einfach austauschten, jeder mit seiner Kodderschnauze, ohne Rücksicht – etwa nur, weil Madame krank war, – denn sie war ja Monas Chefin, eine Chefin mit einer Scheiß-Krankheit an den Hacken.

Madame war sehr naturverbunden. Ein Traumfänger baumelte über dem Bett, sie interessierte sich für Sterne und Astrologie. Auf einem ländlichen Fleckchen von Essen pflückten die Frauen Walderdebeeren. Das liebte Madame, mit Herzensgenuss aß sie die Dinger, erinnert sich Mona noch heute. Regelmäßig wollte Madame teilen, und regelmäßig sagte Mona „Geh’n ’se weg mit den Dingern, ich ess’ die nicht.“ Madame aber ging in den Brombeerbüschen das Herz auf.

In der Küche entfuhr Madame manchmal ein Lob, wenn Mona ihr den gewünschten Reis mit Möhren oder Brokkoli zubereitete: „Datt habense aber lecker gemacht“, und Mona erwiderte: „Ja, da kann ich ja wohl auch nich viel falsch machen!“ Und als Madame aufgegessen hatte, sagte sie Mona noch zum Abschied: „Na dann bringen sie beim nächsten Mal ma ‚Schön Wetter‘ mit!“ –

Dann ging die Sonne hinter den Wolken unter, der Mond ging auf, der Mond ging unter, zog die Wolken wieder hoch, dann wieder runter, um noch einmal auf und unter zu gehen, das ganze noch ein paar Mal… – dann kam der nächste Arbeitstag und brachte die gewünschte Sonne mit. Und dann hatte Mona einen Brief zwischen ihrer Post. Sie öffnete den Umschlag und las: „Wenn sie diesen Brief lesen, bin ich tot.“ Bei lag ein Foto von Madames Hund.

Madame hatte immer eine andere Sorte Eis gegessen, mal Waldfrucht und mal Stracchiatella, mal Pistazie und dann Haselnuss. Und sie war immer für einen Klecks Sahne und eine Überraschung gut. Und sie hat Steine gesammelt. So einen großen, rosafarbenen hatte sie Mona nach einem ihrer ersten gemeinsamen Tage geschenkt. Er wurde nach innen hin immer dunkler. Heute denkt sich Mona: Sie muss das lange geplant haben.

Mona versteht Madames Entscheidung. In ihrer unnachahmlichen Voraussicht hat dieses eigenwillige Stück auch noch den Namen der Organisation hinterlegt. Denn sie wusste ja, dass Ihre ‚Angestellte‘ immer über dem Internet hing. Und tatsächlich hat sich Mona wenigstens informieren können, wo und wie Madame still und heimlich gegangen war.

Wenn es für sie das Beste hat sollen sein, so empfindet es Mona, dann wollte sie es Madame zuzugestehen versuchen. Ohne Wut. Aber mit Enttäuschung.

Mona nahm sich an diesem Tag frei. Und sie nahm ihren Thermobecher für Kaffee und schrieb darauf: Kein Mensch hat verdient, allein zu sterben.

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