Der eine kannse nich mehr halten, der andere kannse nich mehr sehen, aber et klappt!

„Kommt ne Ameise ins Zimmer“, beginnt sie zu erzählen und lässt dabei weißen Zucker in einer breiten Linie auf den Tisch rieseln. Ich stelle mir vor, dass es brauner Zucker ist und sehe, wie ein Ameisenvolk vor Utes Platzdeckchen zu wabern beginnt. „Und die hat ihre ganze Verwandtschaft mitgebracht.“

Ameisen mit Flügelchen sind in die Gute Hoffnung eingezogen und sorgen dort für Aufruhr. Auf der Suche nach Erdbeeren, Käse oder Fleischwurst würden sie sich auf Utes Balkon erst einzeln einfinden und später als Fühlerkette vom Garten bis in die Küche kriechen, bestätigt auch Ellen, die über ihr wohnt. Mit Zucker entlarvten die Frauen aber nicht nur weiteren Nachwuchs, sondern auch das Geheimversteck, „aus dem die Viecher kommen“, triumphiert schließlich Erika und wir sind mitten im Frühsommer.

Das Erzählcafé Streuselkranz findet sich nun schon seit fast vier Jahren in der Guten Hoffnung in Oberhausen Sterkrade zusammen. Erzählt wird alles, das sich den Menschen, die hier leben, in ihren Lebensweg ‚gestreuselt‘ hat und aus dem sie eine für sich ganz eigene Bedeutung schöpfen können. Sie schildern, wie sie den Standort Sterkrade gerade für sich erleben, und das kann bei einem Apfelbaum im Jahr 2018 beginnen und in einem Gespräch über die Nutzgärten der 40er-Jahre münden – und dort eine ganz andere Leuchtkraft bekommen. Ein bisschen Geschichte des Ruhrgebiets lebt hier auch im Alltag auf, und sie passt so gut zu Streuselkuchen.

Heute gibt es Erdbeerschnitten und Schokoladenhappen, die Katrins Team aus dem Café Bistro Jahreszeiten für uns vorbereitet hat. Und während es sich die ersten Frauen und ein Mann schweigend schmecken lassen, erzählt Ute vom Spargelessen in Rees: „Wenn man Spargel kauft, muss man vor allem auf die Schnittkanten achten. Die dicken Stangen sind besonders saftig, und einfacher zu schälen!“, schenkt sie mir Jahrzehnte ihrer Kocherfahrung zum 15 Uhr Kaffee. „Ein Imker ist neulich gestorben“, wirft Erika ein und erinnert an die dazugehörigen Bienen, die auch nicht mehr sind. „Jetzt soll man Wasser für die Insekten aufstellen und wenn man eine Wespe abmurkst, kostet datt 500 Euro!“, informiert uns Irene.

Früher seien es Schädlinge gewesen, die ganze Ernten bedrohen konnten, erinnert sich Gabriele, auch an die Wetterlagen und andere Tiere, die den Kohl für den Winter ausbleiben ließen. Heute ist Glyphosat der neue Kartoffelkäfer. –

„Eine Fliege lebt einen Tag. Mein Vater wäre heute 140 Jahre alt geworden. Aber die Erinnerung an ihn verblasse erst, wenn die ersten nicht mehr wissen, wer er war.“ (Lilly)

Es sind nicht die selbst gedrehten Stummfilme, die sie immer noch nach Holland zum Kibbelng-Essen trieben, erklärt uns Erika. Es gibt die Dinge, die sich erinnern müssen, und Gewohnheiten, die verinnerlicht sind. Da braucht es keine stummen 60 Minuten, die auf einem Band damals Platz hatten.

Kurz vertiefen wir uns in die Anfänge des privaten Videoentertainments, da zückt Ute ein altes Nokia-Modell aus ihrer Handtasche. Mit ihren Enkelkindern wolle sie auf Augenhöhe bleiben, macht sie uns klar, und öffnet das Tastenfeld wie einen Schminkspiegel, mit einer Miene, als entsichere sie eine Waffe. „Hast du einen Vertrag?“, will ich von Ute wissen, und die schmettert mir entgegen: „Näh, damit habe ich keinen Vertrag, he he! Wenn ich neues Guthaben brauche, setze ich mich auf die Mauer von Aldi und warte darauf, dass ein junger Mensch vorbeikommt, der so aussieht, als könnte er mir helfen. Der überspielt mir dann den ‚Alditalck‘ da drauf.“

Wir lachen zusammen über Ute, die so diebisch verschmitzt in sich hineingrinst, als wisse sie sich in ihrem Quartier die ‚Assistenzsysteme‘ noch ganz gut selbst zu bauen. Und wenn sie ein bisschen Zerstreuung suche, spiele sie: „Räuber-Rommé, andere Karten oder Elfer raus. Der eine kannse nicht mehr halten, der anderen kannse nicht mehr sehen, aber et klappt!“

 

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