Die zwei Frauen versuchen, zu ermitteln, um wen es in dem Gespräch der dritten und vierten geht. Der Inhalt des Gesprächs bedarf nicht der Identität der Person. Ihr Gespräch bekommt gewisse Längen. „Man datt is der, wenn er sich bückt, watt aufhebt!“, kürzt Erika den gesuchten Niemand in ihrer schroff-redensartlichen Herzlichkeit ab. Und wir starten: unser 22. Erzählcafé Streuselkranz.
Heute ist Samstag, der 3. Juni, wir treffen uns um drei im Café Bistro Jahreszeiten, um Momente zwischen den Generationen einzufangen. Zum Beispiel diese Sekunde, in der ich mich frage, wo die Redensarten eigentlich geblieben sind und welche soziale Funktion sie haben. Wo haben sich die Redensarten in dem Jargon der 30-Jährigen versteckt und werden unsere Kinder sie auch irgendwann als altbacken und irgendwie putzig empfinden?
Bevor der letzte Kuchenteller platziert ist, klappen wir uns bereits durch die Fotografien einer Inszenierung des Theaters Oberhausen. „Tabuzone“ heißt das Stück, in dem die Regisseurin und Dramaturgin Michaela Kuczinna professionelle Schauspieler und Laiendarsteller für herrlich absurde Szenen rund um den Alltag in einem Pflegeheim zusammenbrachte. Das berichtet uns Rosemarie, stolze Besitzerin der Fotos und Mitwirkende in dem Stück: Mit „Blutsaugern, Rollstühlen und Toiletten“ geht die 84-jährige Sterkraderin für uns ins Detail. Texte auswendig zu lernen hat Rosemarie keine Schwierigkeiten beschwert. Nein, ein Spaß sei es gewesen, mit den Jugendlichen des Ensembles gemeinsam verschiedene Alltagswelten auf eine Bühne bringen zu dürfen.
Für das Kostüm habe die Ausstatterin Rosemaries Kimono grün eingefärbt, denn Rot habe ihr nicht gestanden: „Watt für’n Aufwand!“, zeigt sich Rosemarie gerührt und nur wie zum Alibi mit dem Hauch eines sanften Protests. Stolz schiebt die Seniorin die Fotografien wieder über die Zieharmonika-Faltung in ein Taschenbuchformat – diese Eindrücke hinter dem Vorhang und vor der Kulisse, im Scheinwerferlicht und vor ausverkauften Reihen – zurück in ihre Handtasche. So, als gehörten sie ihr nur so so ganz, als könne man ihr dieses kleine Geschenk nicht mehr nehmen.
Samstag und Sonntag sei die Vorstellung „rappelvoll“ gewesen, berichtet uns eine Bewohnerin und Zuschauerin mit glänzenden Augen, als uns Katrin appetitlich besahnte Eiskaffees mit Strohhalmen aus bauchigen Gläsern reicht. „Wie Menschen aufeinander angewiesen sind“, ja, darum sei es in „Tabuzone“ gegangen, wie verschiedene Altersgruppen und Probleme sich anders und doch als zusammenhängendes Ganzes äußern, fasst Rosemarie für uns zusammen.
Andächtig folgen alle der Nacherzählung des Dramas und seiner Charaktere, dann wirft Erika wie zur Auflockerung ein, dass sie Rosemarie noch ein Frühstück für die Socken schulde, die sie ihr gestrickt habe, „richtige Sauerkrautstampfer“ habe sie, da passe ihr keine Standardgröße und da sei sie auf den geschickten Umgang mit Nadeln einer anderen angewiesen.
Über die letzten „Bewohner-Aktion“ kommt Katrin, Bewohnerbetreuerin der Gute Hoffnung – leben, ins Schwärmen: Kräutersalz hätten die Frauen zusammengerieben und dafür „Meersalz“ genommen, „Nein weniger Salz!“, sagt Erika ernst und schiebt errötet hinterher, sie sei keine Hausfrau und bitte für den schlechten Witz um Entschuldigung.
getrocknete Zwiebel- und Knoblauchwürfel
Oregano, Thymian, Rosmarin und Konsorten
Majoran, (das typische Bratkartoffelgewürz)
Sellerie und andere ‚Salatkräuter‘
Mit dem Glibber spanischer Wegschnecken, die in Ilses Garten einst von Igeln gefressen worden waren, kommen wir auf die Frohnleichnamskirmes in Oberhausen Sterkrade zu sprechen und dann auf den Unterschied zwischen 333 Gold und der höheren Legierung eines 585ers.
Vor 50 Jahren sei es üblich gewesen, dass die Frau den wertvolleren Ring bekam und der Mann das unedlere Stück. Schließlich war er es, der zwar nicht weniger mit den Händen arbeitete, aber teilweise so gefährliche Tätigkeiten verrichtete, dass er zu 90 Prozent seines Lebens den Ring ablegen musste – beispielsweise am Hochspannungsmast.
Liebe Familie xxx!
In all das fürchterliche Leid des Krieges möchte ich Ihnen heute ein paar ganz herzliche Worte zum Gruße zurufen. Ich wünsche Ihnen in der Heimat alles Gute und bleiben Sie gesund! Mit festem Glauben an (?) grüsse ich herzlich! Ihr xxx.
Katrin und ihr Mann haben ihre Eheringe neulich anlässlich ihrer Silberhochzeit varriieren lassen, erzählt uns die Assistenz der Restaurantleitung und Mutter von 4 Kindern. Dazu sind sie bis ins Sauerland gefahren, weil nur eine „vereidigte Sachverständige und Gemologin für Edelsteine“ den riskanten Schmelz wagen konnte. Katrin sei es gewesen, die gelötet hat: „Da kommt es auf die Sekunde an!“, bevor das symbolisch unersetzbare Stück wegfließe. Ihr Mann habe gefeilt. Auf 0,0 Gramm wird gewogen, was als grober Staub die Umkofferung gerieselt war.
Erika erzählt, dass es in den 70er-Jahren nicht unüblich gewesen sei, dass Mitarbeiter, die schon lange zur Belegschaft gehörten, so nach 40 oder 50 Jahren eine goldene Uhr bei Ihrem Vorgesetzten abstauben konnten. Eine Medaille aus Gussstahl habe es sich etwa eine Firma wie damals Krupp kosten lassen, die lange Treue eines Mitarbeiters zu seinem Unternehmen zu würdigen. „Mit den drei Kruppschen Ringen“ wurde da ein ganzes halbes Leben zum Knoten gezogen, „ja, wer kommt denn heute noch auf so eine Zahl?“
Die eine und andere der Frauen wirft ein, dass die Betriebsrente aus ihrer Sicht keinen Sinn mache. Früher habe man mit 14 Jahren in einem Betrieb als Lehrling angefangen, da drückten Jugendliche eines 2017 ja noch die Schulbank. „Da gibbet keine Legierungen mehr, außer irgendwann ‚Blei in den Knien, Silber in den Haaren und Gold in den Zähnen‘, ha ha ha.“
Von der Grafenmühle, einem beliebten Ausflugsziel für Familien an Pfingsten, über rempelnde Skateboardfahrer und einem Mann, der 45 Jahre am Hochofen gearbeitet habe, bevor er an einer Lungenentzündung starb, kommen wir auf Geburtsstationen zu sprechen.
Früher habe, abgesehen von der Hebamme und gelegentlich einem Arzt, niemand einen Kreißsaal betreten dürfen. Die Kinder wurden von Nonnen in ein separates Säuglingszimmer gebracht, um dort am Fenster ihrer Mutter gezeigt zu werden. Ihre Tochter sei so „moppelig“ gewesen, erzählt Rosemarie, dass jeder Besucher der Station sicher durch die Reihen der Babys hindurch identifizieren wollte: dieses Kind sei schon mehrere Tage auf der Welt, die Mutter sei vermutlich krank und habe es bislang nicht abholen können.
Rosemarie kommt noch weiter ins Erzählen, über sich als junge Frau. Als Textilverkäuferin habe sie gearbeitet, bei Hermes Polsterei in der Duisburger Straße, die seit 1906 immer noch besteht. 1951 habe Rosemaries Job 150 Deutsche Mark gegeben, das sei für sie damals ein okayer Kurs gewesen. Im Akkord habe Rosemarie gearbeitet, während das Eis seit 1954 von 10 Pfennig jährlich im Preis gestiegen sei.
Neben diesen Groschen erfahre ich sehr bewegende Geschichten, inmitten der so ‚pfundsgesunden Sterkrader Sprüche‘. Ich versuche die Entscheidung der Frauen nachvollziehen, die in der Heirat eine Möglichkeit sahen, ein noch engeres Zuhause verlassen zu können, bekomme einen Eindruck, was es geheissen haben musste, 1933 auf die Welt zu kommen und was es heute noch macht, wenn in der Rückschau das eigene Überleben als Säugling – mit seiner Nase, seinen Haaren und seinen Augen – nur von einem Häkchen abhing, das irgendeine Krankenschwester machte.
Kaum vorstellbar bleibt, was die Adoption in Zeiten des Notstands geheißen hat. Für manch eine der Frauen vom Regen in die Traufe zu kommen.
Ich nehme das alles mit, bis zum nächsten Erzählcafé. Und ich zitiere eine von ihnen, die noch am Ende, eines sogar sehr erfüllten Lebens zu der Aussage kommt: „Gern würde ich manch einem Abtreibungsgegner einmal einen Brief schreiben.
Der, wenn er sich bückt, etwas aufhebt.