Heute ziehe ich mir auf dem Weg zum Café Bistro Jahreszeiten, in dem die Menschen der Gute Hoffnung leben schon zu Rhabarber mit Sahne zusammensitzen, zwei kleine Möhren aus dem ‚Garden to go‘. Sie sind ziemlich klein, gelb wie halb geschmolzenes Wassereis und schmecken etwas bitter nach Baumarktmutterboden. Als ich mit etwas langen Zähnen knabbernd durch die Tür komme, begrüßt mich Rosemarie mit einem: „UHHH, ich würde da NICHT ernten! Nachher pinkelt da einer drauf!“.
‚Sie war eh noch nicht reif‘, beschließe ich und spüle mein viel zu schnelles Ankommen unter den Frauen schnell mit dünnem Kaffee runter.
Da sind wir wieder. In der Gute Hoffnung leben, auf dem alten Betriebsgelände der Gutehoffnungshütte in Oberhausen Sterkrade. Zu Geschichten, Erinnerungen und meiner guten Hoffnung, dass niemand auf die Möhre gemacht hat.
Ihr eigener Garten sei von zwei Meter hohen Tannen umsäumt gewesen, kommt Rosemarie, die alte Sterkraderin, gleich ins Erzählen, „damit meine Mädchen sich unbeobachtet im Bikini sonnen konnten!“ Einen Steinofen hätten Rosemarie und ihr Mann auf ihrem Grundstück angefeuert, in dem besonders während der Feiertage oder Stadtfeste, wenn Kirmes war oder „unsere Mädchen wieder die halbe Nachbarschaft eingeladen haben“, die gespritzten Schinken vor sich hin schmoren konnten. „Abgelegene Esche und Buche kann ich dir anbieten“, sagt Rosemarie zu Katrin, die Kuchen verteilend erzählt, dass sie sich auch einen Ofen anschaffen wolle. Der würde ihr gut zur Sommersonnenwende passen, „wenn wir Stockbrot backen und die Kinder übers Feuer springen“. Aber auch sonst, abends auf ihrem Grundstück in Dinslaken am Niederrhein. Dort, wo Katrin und ihr Mann, Chefs des Café Bistro Jahreszeiten, viele Kinder und noch mehr Tiere großziehen.
Beeindruckt folge ich Rosemaries Erzählungen, in denen die 84-Jährige von den „heißen Eisen“ erzählt, die ihr Mann geschmiedet habe, von Beschlägen für die Haustüre und Hausnummern für die Nachbarn in allen Schnörkeln, die die Zeit zuließ, in der das heiße Eisen noch geschmeidig war und Rosemaries Mann es bearbeiten konnte. Mit aufgepusteten Erzählbacken bringt Rosemarie noch einmal das Feuer zwischen den Nadelbäumen zum Lodern. Heiß zum Aroma der Fichten kommen die Würstchen und mit ihm die Nachbarskinder und die Erinnerungen Rosemaries in unser Erzählcafé. Aufgeschrieben, um in der nächsten Montagsandacht vorgelesen zu werden, wo es auch andere erinnern und erzählen lässt.
Katrin erzählt, dass ihre Söhne sich gerade in Streichen versuchten, „die tauschen Zahnpasta mit Wasser aus, Zucker durch Salz und so“, befestigten Lockeres mit Knete und verstünden es, Befestigtes etwas ‚aufzulockern‘… Katrin habe ihnen daraufhin ein kleines Feld im Garten abgestochen, „da haben sie mal ein paar Disteln und Brennesseln gejähtet“. Unkraut jähten in einem, wenn man Katrin so zuhört, heilen Bullerbü längs der Emscher, eine liebe Strafe auf einen noch harmloseren Streich.
Von Bengeln und ihren Ideen kommen wir auf Heißluftballons zu sprechen. Rosemarie weiß fesselnd zu erzählen, welch fauchende Geräusche das Gas machte, wenn es einen Ballon in den Himmel steigen ließ und wenn der Ballonfahrer die Zufuhr für die Position im Verhältnis zu Temperatur und Luftfeuchtigkeit fein abstimmte. Mit bis zu vier Personen sei Rosemarie aufgestiegen, „als wir Locken verbrannten und durch die Wolken flogen“. Das Kokeln mit dem eigenen Haar und Ablöschen mit Sekt sei „ein Brauch“, erklärt uns Rosemarie, „damit man heil wieder runter kommt!“
Der Korb eines Heißluftballons – das will ich von Rosemarie gegen mein Schwindelgefühl wissen – reiche einem bis zur Brust.
„Von oben kann man alles hören, was unten geschieht. Nur umgekehrt, aus der Luft erdwärts, da hört man nichts.“
Mit einem Segelflugzeug sind wir schon mal vom Flugplatz Borkenberge aufgestiegen“, erzählt Rosemarie, „als die Hindenburg explodierte, war ich eins.“
Die Gesprächsfetzen wechseln sich ab, zwischen der Luftfahrt des deutschen Reichs und dem Kriegsflugzeugbau, zwischen Erzählungen über die Schwarze Heide und das Hobbyfliegen der 90er-Jahre. Rosemarie überzeugte sich gern aus den Wolken, wer sein Auto am Samstag wusch. Fliegen solle man in jedem Fall gegen Keuchhusten, wirft Ursula ein und meint damit vielleicht einen Urlaub am Meer.
Die Frauen haben ihre eigene Narratologie, ihre eigene Erzählkunst: Von lokalen Kleinkriminellen schaffen sie schnell die Überleitung zum Ruß, der einst unablässig aus einem Stollen im nordrhein-westfälischen Herne aufstieg. Der rote Himmel über dem Schlackeberg spannt sich weit über die steif gestärkten Paradekissen, die es einzusprenkeln und zu bügeln galt. Das Rot kein Wetterspektakel einer Zechenromantik, sondern Schmutzpartikel in der Luft. Staubige Kinder, Schlagwetterexplosionen, Grubenbrände. Dazwischen Textilien, „immer apart und akkurat!“
Rosemarie erinnert sich schmunzelnd an die Freunde ihrer Töchter, die sich – so in den 70ern sei das gewesen – bei Rosemarie mit allem eindeckten, das sie zum „Bemalen ihrer Autos“ in der Kiesgrube gebrauchen konnten: Es gab eine Tüte Erdnussflips (die Erika sich heute immer noch in den Mund schnippen könne, wirft die ein) und zwei Flaschen Zitronensprudel. Auf die Einwände der 18-Jährigen, „wir wollen aber selbst was kochen!“, sei jedes Mal hart verhandelt worden. Mit einer Bratpfanne, Eiern, Margarine, Nudeln und einem Campingkocher habe Rosemarie sie schließlich „loszockeln lassen“, von einem Lächeln begleitet, das den Jungs heute noch diese Gemütlichkeit zu gönnen scheint.
Rosemarie. Mit dieser ihr so eigentümlichen Wärme, für ihren Mann, die Nachbarn von damals und die Freunde ihrer Kinder, für Schmiedekunst, den Ballonsport und die ganz alltägliche Kirmes mit ihren vier Kindern. Aus der Luft, aus den Gruben und unter einem Himmel über dem Ruhrgebiet, der heute noch oft so schön rosa ist.