Strahlende Zähne, links und recht der Mund in spitzen Winkeln fest arretiert, an zwei präzisen Ohren: Sie müssen aufmerksam sein! Umgeben von einem warmen Parfumdurft und einem Kranz aus wildeskem, rötlich-blondem Haar. Sicherlich nicht die höflich-behutsamste Art, jemanden vorzustellen. Aber wir sind ja im Ruhrgebiet.
Der Besuch Britta Costeckis, der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Oberhausen, lässt sich kaum anders beginnen. Zum bundesweiten Vorlesetag ist die Frau ins Café Bistro Jahrestag gekommen, die sich für andere Frauen stark macht. Heute ist sie zum Erzählen gekommen, zum Zuhören, zum Austausch mit den Senior*innen, die in der Gute Hoffnung – leben wohnen oder die das Seniorenzentrum in Oberhausen Sterkrade nach dem Hausgemeinschaftskonzept ab und zu besuchen. (Das Treffen hat im Winter 2019 stattgefunden)
Die Leute kommen an diesen Ort, um neben der Andacht oder dem Montagsgebet eines der vielen Angebote wie zum Beispiel Yoga, Erzählcafé oder Fit für 100 wahrzunehmen. Oder eben die Persönlichkeit Costecki kennenzulernen, die sich darum kümmert, dass Menschen unterschiedlichster Bedarfe und Einschränkungen, ja einfach diverser Lebensumstände, in Oberhausen auf Offenheit und Unterstützung treffen können. Das Café Bistro Jahreszeiten, geleitet von Jörg und Katrin Engels, ist mitten im Quartier gleich zu einem Inklusionsbetrieb aufgestiegen!
Frau Cortecki lacht herzlich mit den Augen, ist aber auch zurückhaltend interessiert. Das Büro für Chancengleichheit, für das Costecki die Feder führt und offensichtlich Ärmel krempelt, ist zentrale Kontaktstelle für Menschen in hohem Alter, für Familien und für inkusives Leben in Gemeinschaft und Stadt. An diesem Novembernachmittag ist ihr Auftrag zugleich eine „Lieblingsbeschäftigung“, wie sie sagt, das Lesen, wenn auch sie dafür eine Lesebrille brauche.
Costecki versteht es, die etwas starre Spannung ganz sachte mit der Kondensmilch in den 15 Uhr Kaffee am Freitag einzurühren. Sie verführt die Anwensenden: Zum ersten Nippen an ihren Tassen, zum neugierigen Lauschen auf das, was Costecki über ihre eigene Beziehung zu Büchern und Papierseiten schildert. Und diese Gedankenfetzen finden hier im Café Bistro Jahreszeiten sofort ihren Platz, das kürzlich seinen Inklusionspreis 2019 durch die Stadt Oberhausen und die Bundesagentur für Arbeit überreicht bekam. „Entspannung“, „Mütter“, „Schweigen“, „schön Sprechen“ verbinde Costecki persönlich mit dem Lesen. Und auch die Gute Hoffnung gewissermaßen mit dem Haus Abendfrieden, die Costecki im Rahmen des von der Stiftung Lesen organisierten bundesweiten Vorlesetag NRWs bereits im Haus Abendfrieden getroffen habe.
Ausgesucht habe Costecki eine Geschichte, der man ohne große Konzentrationserfordernis folgen könne. Sie sei aber nicht zu flach und ende schön. Es ‚wohnt‘ sich in dieser Geschichte wie im Pott, inmitten von Menschen die eine Behinderung haben, oder zwei. Auch einen Cartoon hat die Vorleserin mitgebracht, mit Witzen in leichter Sprache. Und sicherlich, das deutet Costecki an, liegt gerade darin bereits eine Prise Trockenheit, Humor, den einfache Fragmente manchmal viel besser ausdrücken können als Konstruktionsungetüme, die total unlustig sind.
„Und ich genieße es deshalb (Ihnen vorlesen zu dürfen), weil ich sonst, als Verwaltungskind, in Schachtelsätzen unentwegt zu Reden meinen Betriebsalltag zu fristen geneigt bin.“
Zuverlässig zitiert ist hier nur das Wort Schachtelsatz. Aber die Frauen lachen. Auch in diesem Text.
Anstatt diese Geschichte wie eine Erzählung in der Erzählung nun nachzuerzählen, was ebenso wenig gelingen kann wie die von Costecki mitgebrachten Cartoons von Birte Strohmayer nachzuzeichnen, ist es viel interessanter, die 60- bis 90-Jährigen beim Lauschen zu beobachten…
Manche haben die Augen inzwischen geschlossen. Einen Punkt hinter der großen Fensterscheibe des Café Bistro Jahreszeiten fixiert. Manche Finger streicheln die vor ihnen liegende Papierserviette glatt. Das Kuchengeschirr klappert behutsam leise. Manch eine, mit schönen Altersflecken besprenkelte Hand, hält sich an der Tischkante fest, während Frau Cortecki sich behende durch die Konsonantenungetüme des Ruhrgebiets und durch die Missverständnisse zwischen den Geschlechtern liest: „Kodderschnauze“, „Mischpoke“, „Sündenplunder“ und „Halunke“. Die Augen wandern durch den Raum, während Frau Costecki dramaturgisch Höranweisungen gibt: „Jetzt passense auf: …!“
Ich frage mich, woran sich Lilly, Erika, Ellen, Ingrid, Katharina eigentlich genau festhalten? An dem Moment, der gerade in die Zeit einbricht? An der Erinnerung, wie ihnen die eigenen Mütter vorlasen? Oder ganz einfach, weil sie ihr leichtes, unkontrollierbares Zittern unterdrücken wollen, wie auf einem besonders strengen Hauskonzert, auf dem man nicht atmen darf? Man kann eine Stecknadel zu Boden fallen hören, während der Käsekuchen auf den Zungen zermahlen wird. Die kleinen Lilien, die Mitarbeiter*innen des Café Bistro Jahreszeiten wie immer liebevoll auf den Tischen drappiert haben, fangen die Dramaturgie von Corteckis Worten wie in kleinen Trichter ein: Das „Ausscheuern der Töpfe“ für die Essiggurken. Das an das Berner Wunder erinnernde Kaninchen, der sogenannte „Preisrammler“ und das Wort „blümerant“ scheppern manchmal etwas schroff. Verloren gehen die Ausdrücke auf diese Weise aber nicht.
Ich frage mich, was es ist, dass die Geschichten von und für Senior*innen immer auch so ein bisschen wirken lassen, als hätte jemand vergessen, dass sich eine gewisse Anstrengung spätestens beim Vorlesen nicht mehr verbergen lässt. Es ist das Wegerzählen dessen, was auch war und ist. Oder? Oder macht es das Erzählen an sich, das Einüben von Zerstreuung, das ich als Kind der 80er nur von den Kindern kannte, die nicht wussten, was Spaghettieis ist und die irgendwie so behelfsmäßige Witze machten, weil ihnen die echten Kinderkrimis fehlten. Ablenkung sozusagen, „weil sie nichts anderes hatten“, wie meine Oma immer sagte, „nich ma Nüsse zum Dreck machen“. Merkwürdig skurril wirken da die Amazon-Witze der vorgelesenen Geschichte, deren Autor*in ich mir nicht notiert habe. Der Inhalt dreht sich um überdachte Rollatorenparkplätze und Tanzfilme.
„verbuddelt – schludderig – Konfektkasten, sacht`se“
Was dabei aber eigentlich wirkt, ist die Anwesenheit Corteckis. Nicht das Erzählen und Vorlesen der „X-TEN Stickmützchen-Geschichte“, nicht die „MissT/Vairständisse“ zwischen Alt und Jung, sind es, die hier von bleibendem Wert sind. Es ist das Dasein Frau Corteckis, die ihrerseits die Frauen und Männer umstrickt, mit ihrer Aufmerksamkeit und ihren interessierten Fragen, ihrer Anwesenheit und ihrem Lesen und Vorlesen mit sonorer Stimme, die zu diesem Anlass wirklich als Tugend wahrgenommen und verstanden werden. Sammeltassen und Kuckucksuhren, sie werden irgendwie noch einmal anders evident. Für die Frauen. Die jüngeren, die älteren. Mit Behinderung und ohne. Eeben für alle.