Eintauchen in gezuckerters Süßwasser

Heute treffe ich Renate wieder. Renate kommt viel rum und reist allein mit diversen Traumschiffen durch diverse Länder, die nicht unbedingt zu jedem Zeitpunkt traumhaft sind. Doch nach zwei Tagen hatte Renate raus, wie religiöse Kleidung zu knoten und das Silberbesteck zu bedienen war, gleich Anschluss gefunden und immer ihre Ruhe, wenn sie es so wollte.

Ihre Freunde, erzählt Renate ein bisschen traurig, habe sie in all den Jahren, die sie nun schon ohne ihren Mann lebe, nicht vom Urlauben überzeugen können. Da fehlten Geld, Muße und vielleicht auch der Mut bei manchen von ihnen, in hohem Alter noch einmal sein Quartier zu verlassen.

Tiramisu esse Renate, wie sie so ein bisschen ‚pfundsgesund‘ flötet, aber auch gern in einem Lugano in Oberhausen Sterkrade. — Kurz hüllt sich die Kaffeerunde in irritiertes Schweigen, dann lacht Bettina: „Ach, ich dachte Du meinst das echte Lugano, das wäre ja sehr bescheiden von Dir, hehe!“ Cremig gerührt und gut in Rum getränkt müsse es sein, erklärt Renate weiter, da erzählt Ursula auch schon von den Enten im Volkspark und von den Jungen, die ihr, jetzt im Mai, wie an einer unsichtbaren Kette hinterhergleiten.

„Ups, dich kenne ich aber nicht“, will Ursula einem ihr unbekannten Vogel still zugerufen haben. Mit der uns schon gewohnten Brise ihres spitz-liebenswerten Humors verleitet uns die ehemalige Wahl-Engländein zu den ornithologischen Bestimmungsversuchen eines „schwarzen Vogels: klein wie ein Spatz und mit einem weißen Streifen.“

Das heutige Erzählcafé, ein Angebot aus der Quartiersarbeit des Senioren- und Demenzzentrums Gute Hoffnung – leben,  ist so richtig warm. Wir sitzen im erkerhaft angedeuteten Wintergarten des Café Bistro Jahreszeiten und unterhalten uns in großer Runde, der Tisch zu einem langen L geformt. Zu kleinen Quadraten geschnitten sind die Donauwellen und dazu gibt es den gewohnt milden Kaffee, wahlweise mit Koffein oder ohne.

Ingrid erzählt von den Hasen, die alle zwei Jahre auf dem Feld gegenüber ihrer Wohnung dem eigenen behäbigen Hinterteil immer schon voraus seien. Renate ergänzt, dass Emma, der Hund aus Haus Nummer 5, die Hasen immer gejagt habe. Nun sei Emma tot, (und vermutlich im Innenhof der Guten Hoffnung beerdigt, denke ich).

Wir kommen über Trödel- und Flohmärkte ins Gespräch. Ingrid erzählt von ihrer Tochter, die aus Kinderkleidung Geld für neue erstehe und davon, wie sie selbst die Dinge eher aufbrauche, bis sie kaputt gingen. Ich zücke drei alte Poesiealben, die Anfang des 19. Jahrhunderts begonnen wurden, und muss sie zwei Damen nicht lange vor die Nase halten, bis jene die Sütterlinschrift bekannter Poesiesprüche bereits flüssig vorlesen. Mir war es nicht einmal gelungen, die Mischung aus Fraktur und gebrochenen Schreibschrift, von Hand mit Tinte geschrieben, zu entziffern…

„Es ist ein tiefer Segen, der aus dem Worte spricht, / Erfülle allerwegen, getreulich deine Pflicht“, liest Ursula und hält mit mir kurz inne, die ich den Abstand zu dieser Zeit spüre und die Unmöglichkeit, sie sich wirklich vorzustellen: „Wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden. / Nicht alle auf der Erden Rund ist dieses große Glück beschieden.“

(Und ich denke an meine Nachbarin, die gerade ihre Einliegerwohnung für einen Flüchtling räumt.)

Ingrid liest ohne Lupe und Lesebrille weiter:

„Wenn du meinst ich lieb dich nicht und treib mit dir nur Scherz, / dann zünde ein Laternchen an und leuchte in mein Herz.“

GLITZ GLITZ GLITZ GLITZ GLITZ GLITZ GLITZ GLITZ GLITZ GLITZ

Die Damen blättern sich aufgeregt und neugierig, beinahe begierig durch die Seiten der Alben, so, als tauchten sie nach langem Durst in ein Becken gezuckerten Süßwassers ab. Sie murmeln und wispern sich durch die irgendwie kullernden Sprüche, mal religiös, mal lieblich und manche auch etwas patriotisch… Nach tatsächlich hundert Jahren scheinen die meisten nichts ihrer Gültigkeit verloren zu haben. Dann und wann ist ein „Ahhh, das kann ich jetzt wieder lesen“ zu vernehmen oder ein leises, andächtiges „Ohhh, das ist aber ein frommer Spruch“. Und so liest Ursula in englischem Akzent fort:

„Im Glück nicht stolz sein und im Leid nicht klagen, / das Unvermeidliche mit Würde tragen, / das Rechte tun, an Schönem sich erfreun, / das Leben lieben und den Tod nicht scheun, / und fest an Gott und bess`re Zukunft glauben, / heißt Leben, heißt Deiner Zeit sein Bittres rauben.“

Bitter ist in der Guten Hoffnung nichts, aber die Entscheidung, das gewohnte Zuhause zu verlassen, immer schwer, erzählt mir Anni. Sie ist neu – „trinkt mehr als ein Kanarienvorgel“, wirft ihre Nachbarin ein – und erklärt mir den Unterschied zwischen einer ‚Pflegegruppe‘ und einer ‚Wohngruppe‘. Es sei schwer, wenn in einer WG zu viele Menschen mit Demenz sind, vertraut mir Anni an. Da sei es gut, dass es die vielen Angebote der Quartiersarbeit gebe. Hier könne man mit Menschen auf Augenhöhe zusammenkommen und sich austauschen. Man könne das Gefühl ein bisschen antesten, der Umzug sei vielleicht nur der Beginn eines neuen Lebensabschnitts.

Ingrid und Ursula rätseln gerade über ein Wort, das sie nicht lesen können, und testen verschiedene Reime aus. Die neue Dame mit der Tigeraugenkette möchte ihre Stricknadeln verkaufen, kündigt sie Bettina an, die für die Quartiersentwicklung zuständig ist, und zückt stolz und unerschrocken ihren blau unterlaufenen Zeigefinger: „Ach weißte, das ist immer, wenn die Masche weggeht und man davor schlägt.“

Wir kommen noch so ein bisschen ins Erzählen, über Erika und ihre Reisen nach Fuerteventura, über mehrere Schichten Hosen und Pullover, die man „prima übereinanderziehen kann“, denn dann „spart man Gepäck“, und von jugendlichen Abenteuern, über die ich nicht schreiben darf.

Ursula wolle nun „auch in den Sonnenuntergang gehen“, sagt sie, und reicht mir die drei Poesiealben, die ich sicher in meinem Rucksack verstaue. Sehr sicher, eingewickelt in eine Serviette und eine Tüte, ganz hinten, für die wichtigen Dokumente.–

 

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