„…datt war kein schöner Job mit all den schwarzen Krömmelkes zwischen de Zähne!“

Ilse ist neu hier. Sie erzählt mir gleich, wie die Straße in Oberhausen Sterkrade heißt, auf der sie gewohnt hat, und sieht mich kurz erwartungsvoll an. Zusammen mit ihrem Freund habe sie dort ein paar Jahre verbracht, bis er starb.

Jetzt wohnt Ilse wieder in ihrem Haus und sie fühle sich dort auch wohl, erfahre ich. Und ich bin, kaum, dass ich Ilse kenne, irgendwie sehr beruhigt.

Ein Trauercafé besuche sie regelmäßig, vertraut mir Ilse an. Sie wolle sich aber auch hier, in der Guten Hoffnung, unter die Leute bringen: „‚Bei Fit für 100‘ war ich auch schon!“, grinst sie, so aufrecht sitzend, mit kurzen, dunkel geschnittenen Haaren und Augen, die sich interessieren.

Ich bewundere sie und viele andere der Frauen für ihre Tapferkeit und beobachte währenddessen die Falten in ihrer Haut, die sich, gewöhnt an ihr zugehöriges Erzählgesicht, bereitwillig in die ewig gleichen Kurven legen: „Jetzt habe ich aber wenigstens meinen Sonnenuntergang wieder!“, freut sich Ilse und reißt dabei ihre Augenbrauen hoch wie zwei Springseile. „Meinst du den pinken Himmel, den man hier im Ruhrgebiet häufiger sieht? Konntest du den aus deinem alten Haus nicht sehen?“, will ich wissen. „Doch, aber da hätte ich auf’s Dach steigen müssen. Auf meinem Balkon steht jeden Abend ein orangefarbener Ball, und den habe ich jetzt wieder!“

Erika ist wieder da. Sie hat bei unserem letzten Erzählcafé Streuselkranz gefehlt. Uns hat sie gefehlt. Erika hatte einen Herzinfarkt, erzählt aber in dem ihr so typischen, unerschütterlichen Frohmut, wie er sich angefühlt hat. „Du hast ihn bewusst erlebt, kannst dich erinnern?”, frage ich sie vorsichtig, doch Erika kontert beinahe: „Sicher, datt hat weg getan!!“

Erika berichtet von Muskelkrämpfen dort, wo wir viel zu selten hinfühlen und von Schröder, der auf der Intensivstation alle genervt habe. Ein Ort, den man sich eher ruhig und bedrückend vorstellt, wird von Erikas Erzählung ein bisschen… zurechtgerückt. Und wiederbelebt.

Doch lieber liege sie jetzt wieder in ihrem Strandkorb, lacht Erika, bräune ihren Körper zur Lektüre eines gut durchlüfteten Taschenromans mit ein paar Buchstaben drin. Da erinnert sie sich dann an ihr altes Schwimmbad, 8 x 4 Meter, in dem sie und ihr Hund regelmäßig ihre Bahnen gezogen hätten. „Und hinterher habe ich mich noch mit meinem Astralkörper in die Sauna geschmissen, HAH!“

Ilse nimmt sich einen Stuhl und setzt sich an Erikas Eck des Tisches, an dem wir uns schon über den Kuchen des Bistro Jahreszeiten hergemacht haben. Engagiert lehnt sie sich in Zuhörerpose nach vorn, möchte sich einbringen, aber auch von den anderen Frauen hören, die hier in der Guten Hoffnung leben. Auch Ilse weiß schnell von Umwälzpumpen zu erzählen und von dem Wasserwechsel eines privaten Pools, der alle drei Wochen auch bei ihrem verstorbenen Freund angestanden habe: „Auf DIE Arbeit hatte ich keine Lust, auch nicht auf die Verantwortung für ein Haustier oder so was…“, quittiert Ilse nun fast vergnügt über ihre Freiheit. „Ach, wenn ich in datt nachgefüllte Wasser reingesprungen bin, dachte ich immer ‚5 Mark rechts, 5 Mark links‘!“, johlt Erika.

Ab 1,51 m Tiefe brauche man einen Bademeister, so werde ich von den Damen unterwiesen. Salzsäure könne Erika mir leider nicht mehr von der Arbeit mitbringen. Mit der habe sie immer den PH-Wert gerichtet.

Ilse erzählt vom Verkauf im Einzelhandel. Bei Lantermann in Sterkrade habe sie gearbeitet, Gardinen für die damals noch üppige Kundschaft genäht. Das Berechnen der Stoffbahnen hat Spaß gemacht, erzählt Ilse, und sie weiß auch heute noch, in welche Laufrichtung die unterschiedlichen Textilien fallen müssen und wie breit das Faltenband zum Liegen kommen muss.

‚Volant‘ spricht Ilse ‚Wohlong‘ aus, und jeder Zuhörer glaubt der aufgeräumten, gesprächigen und von Sympathie strotzenden Frau mit den tiefbraunen Augen, dass sie auch der Beruf der Architektin erfüllt hätte. Ihr Enkel studiere jetzt Informatik, ergänzt sie. Auch die Enkelin einer anderen Dame sei auf IT umgeschwenkt, erfahren wir, und noch mehr vom nachgeholten Abitur und dem Grund dafür:

„Erst war ’se Zahnarzthelferin, aber datt war kein schöner Job mit all den schwarzen Krömmelkes zwischen de Zähne!“

Ilse bringt dazu allgemeine Gedanken zur Frauenarmut ein. Im Rathaus sei neulich eine Ausstellung über Renten und Gewerkschaften gewesen. Erst ihr Freund sollte es gewesen sein, der am Ende von Ilses Leben aus Vorhangkordeln und Kreidestaub für sie in Worte hat schnüren können:

„Du kannst, jederzeit, selbst etwas aus dir machen!“

„Ich war technische Zeichnerin in einem Ingenieurbüro“, bringt Ellen ein. Damals sei sie unter Versuchskaninchen firmiert, lacht sie in mein Stirnrunzeln etwas ratlos: „Na, ob Mädchen auch technisches Verständnis haben.“

Wir beschlossen an diesem Tag unser Erzählcafé mit einem Ernährungstipp von Katharina: dass nämlich Blaubeeren gegen Macular Degeneration helfen.

Das merke ich mir und betrachte dabei Katharinas goldenen Kettenanhänger. Er umreißt, was Katharina uns schon oft angedeutet hat. Sehr bruchstückhaft, aber keinen Zweifel lassend an der Bedeutung für ihr Leben: Der Kontinent Afrika. Darin ausgestanzt: ein kleines Affenbrotbäumchen.

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