Baden mit Cola-Weinbrand, Zitherspielen gegen Kummer

Ein eher verschlafener Nachmittag. Aber heute bekomme ich eine Zither „gegen wenne mal schweres Herz hast“ und mehr Kuchen als sechs Frauen essen können.

Wir sind nur wenige, heute, an diesem sonnigen 16. September 2017, im Café Bistro Jahreszeiten in Oberhausen Sterkrade, gleich neben dem Seniorenzentrum, in dem titelgebend die Gute Hoffnung regiert.

12 Frauen hatten sich angemeldet, ebenso viele Stücke Donauwelle schwitzen in der letzen Spätsommersonne, und mein vierjähriger Sohn faltet in Gummistiefeln Papierboote gegen die Zeit. „So ein Stempelchen soll mir mein Zahnarzt demnächst auch geben, wenn ich tapfer war!“, kommt Ute gleich mit ihm ins Gespräch. Kaum ausgesprochen klebt ihr schon ein Flugdinosaurier auf der Hand, ein Tattoo, mit dem sie ins Bett gehen wolle, beschwört die 70-Jährige meinem verbeulten Blondschopf beflissent.

Das Erzählcafé Streuselkranz, ein Angebot der Gute Hoffnung leben, gibt es seit drei Jahren. Hier tragen sich alle Geschichten zusammen, die der Alltag der Bewohner♥innen und der Leute aus Sterkrade so schreibt. Auch Geschichten aus dem Ruhrgebiet der 40er- bis 70er-Jahre kommen auf den Tisch zwischen Gelenkschmerz und ausgekochte Fleischbrühe.

Heute taktet Ute auf mit einer Beschwerde. Über den ORF! Der strahle nämlich so verlässlich Erol Sander und Rosamunde Pilcher aus wie er im Quartier verflixt nicht reinzubekommen sei. Doch neben „dem Gerner“ einer Seifenoper, mit der die Frauen selbst in die Jahre gekommen sind, seien Yoga und Fango ihre Lieblingsbeschäftigung. Da lerne man locker zu bleiben und richtig zu atmen.

Ihre Schwiegertochter betreue nachmittags die Schulkinder des Offenen Ganztags an der Melanchthonschule, erzählt mir Ingrid, als ich den Frauen von meinem Vertretungsjob als Lehrerin berichte. Das Thema ist gefällig, denn von allen Seiten sprudelt es Erinnerungen an die eigene Schulzeit, an den Druck, die Angst und den Mief, an harte Sitzbänke, freche Rotzlöffel und beste Freundinnen. Es fühlt sich an, als ob sich der Volksschullehrer – längst sieht er die Radieschen von unten – noch ein Mal zu uns an den Tisch setzen würde. In so einer pfundsgesunden Selbstzufriedenheit, die manche Lehrer ausstrahlen, vermittelte er noch einmal seine Inhalte aus Anekdoten seines Privatlebens. Doch Ingrid hatte aus diesem satt-zufriedenen Narzissmus des untersetzen Historikers eine Tugend gemacht, erzählt sie: „Ich hab aus seinen Geschichten Aufsätze geschrieben, die er dann gern von sich las, und dann bekam ich ne Eins“. Die Plus und Sternchen habe dennoch eine Mitschülerin Ingrids bekommen. Sie strebte eine Karriere als Köchin und Putzhilfe im Haushalt des Lehrers an.

„Mit Religion konnte man auch immer gut punkten.“

Vom „Ohrenlangziehen“ und von Schlägen auf die Finger erfahre ich, als ich genauer wissen will, wie der Unterricht früher war. Aber viel wurde offenbar verdrängt, deutet Ute mit einem Schmunzeln an: „In meinem Heft stand immer ‚Ute muss…‘“, überlegt sie kurz und vollendet dann ihren Satz mit „…na ja, fällt mir jetzt nicht mehr ein, jedenfalls irgendwatt, watt nich gut war!“

Es überrascht mich, dass an manchen Schulen in den 50er-Jahren Englisch unterrichtet wurde und mehrere Klassen zu 40 Schülern zusammengelegt wurden. Der Nachmittagsunterricht habe dem Freibad öfter Konkurrenz gemacht, als eine kleine Kinderseele ertragen konnte. Manchmal konnte die Schulspeisung trösten oder der Applaus nach einem vom Deutschkurs zur Aufführung gebrachten Schneewittchen, „aber nur, wenn es Milchreis gab und die Kostüme hübsch waren“. „Ich erinnere mich“, erzählt Ingrid, „dass alle mein Marmeladenbrot gegen ihr Wurstbrot tauschen wollten, und ans Seilchenspringen in den Pausen denke ich auch noch gerne, aber es war eine richtig harte Zeit.“

Eine Frau lugt um die Ecke. Ich kenne sie nicht, doch Christa lädt sie gleich ein: „Komm rein, wir haben ganz viel Kuchen!“ Doch die Frau sagt, sie wolle bei dem schönen Wetter lieber spazierengehen.

„Mein Mann hat heute drei Töpfe auf ein Mal gekocht, für unsere Kinder, die nächste Arbeitswoche und unsere Babysitterin“, erzähle ich. „Ich hab mir etwas aufgetaut“, kontert Ute, verschmitzt stolz auf ihre Schlagkraft und so manchen Vorteil des Altseins, in dem Männer und Frauen niemanden mehr versorgen müssen außer „datt, worauf man Lust hat zu freten“.

Ich bringe „Graupensuppe“ ins Spiel, wohl wissend, dass rheinische Koch- und Tischkultur schon Stunden unserer Nachmittage gefüllt haben, und lerne doch wieder etwas Neues, als es aus Isas Ecke entsetzt quietscht: „Iiieeeeehh, KÄLBERZÄHNE!“ So hätten sie früher die mittelgroßen und großen Gerstenkörner angewidert genannt, die so glitschten und die es einfach zu oft gab.

Ich schreibe mir hinter die Ohren: Alles, das zu viel und mit zu viel Sättigungsabsicht eingekocht wurde, kann einem schnell zum Tiergebiss geraten.“

Dann erzählt Gerda. Vom Elsass und wie sie mit ihrer Familie nach Roth bei Nürnberg geflüchtet war. Die Mutter hatte nach dem Krieg den Plan gefasst, bei einem Bauern unterzukommen, um dort auszuhelfen, „und um etwas zu essen zu haben.“ Ich erfahre, dass Gerdas Familie nach längerer Suche Unterschlupf bei einem Baron und einer Baronesse gefunden hatte und fühle mich mal wieder bestätigt, dass mein Gefühl für Zeitgeschichte doch diffus bleiben muss: Zwei Pfauen seien dort über den Hof stolziert! Gerda führt auf meine ungläubige Reaktion weiter aus, sie hätten der Baronesse einfach „schick zur Seite“ gestanden und sie „ganz gut geziert“, wie sie so ihre schillernden Räder schlugen, königsblau und tannengrün changierend.

Der Familie sei es gut ergangen zwischen diesen und noch vielen anderen Schrulligkeiten ihrer Arbeitgeber und Ernährer. Sie hätten fortan einen Gussofen besessen, waren gewärmt und satt und blickten hoffnungsfroh in die Zukunft. Doch dann seien eines Nachts zwei Männer auf dem Anwesen eingebrochen und Gerdas Bruder habe sich ihnen in den Weg gestellt – „gerademal 15 Jahre war er gewesen“.

Die Mutter hat seinen Tod nie überwinden können, erzählt Gerda mit trübem Glanz in den Augen. Ute geht mit Gerda mit, in einem stillem Einvernehmen, das zwischen den Frauen in diesen Momenten manchmal geschieht. Eine Übereinkunft, die ich nicht benennen kann, außer, dass sie mir das sichere Gefühl gibt, all das Erlebte dieser Frauen niemals so ganz verstehen zu können, nicht in diesem Wohlstand, nicht in diesem Alter, nicht in einem Jahr 2017.

Nachts, wenn Ute wach werde oder sie ein bisschen Traurigkeit befalle, mache sie ihre meditativen Atemübungen, die sie aus dem Yoga kenne. Gerda zücke dann die Zither, sagt die, „dann zupfe ich die Saiten mit meinem Zitherring und beruhige mich“. Harmonium habe Ida früher oft gespielt und es mache ihr heute immer noch Freude, wenn sie dann sehen kann: „Ach, siehste, kannste noch!“

„Wegwerfen oder Aufheben“, „Bares gegen Rares“ seien ihre liebsten Sendeformate, kommt Ute noch einmal beschlussfähig auf den ORF zu sprechen und dass die Trödelstreifen wenigstens ein bisschen die Spielfilme ersetzen könnten, die sie seit neustem nicht mehr empfangen könne.

„Oh, mein Dinosaurier ist weg, er muss weggeflogen sein“, empört sich Ute plötzlich mit verspielt-aufgebrachter Sympathie an meinen kleinen Sohn. Der präpariert schon sein nächstes Tattoo aus seinem Stickerheft für die altersfleckige Hand Utes, die mir die Gala-Ausgabe mit Brigitte Schrowange empfiehlt: „Die trägt ihre Haare jetzt grau, und glaubse, datt sieht gut aus!“

Ich weiß nicht ganz, wie die Frauen die Überleitung zu ihren Badewannen schaffen, nur, dass sie gern mit Cola-Weinbrandt die Gelenke entspannen. Und dazu: „am besten eine Zigarre!“

Dieses Bild nehme ich heute mit, ebenso wie die Konzertzither von Gerda und die Momentaufnahme von meinem Sohn, der inzwischen Kusselköppe auf dem krümeligen Fußboden des Café Jahreszeiten schlägt und so grunzend lacht, wie es ein auf die Brust gedrücktes Kinn eben zulässt.

Zeit, zu gehen und noch ein bisschen weiter zu verschlafen, diesen spätsonnigen Samstag mit Bötchen, Weinbrand und

KONZERT

ZITHER

SPIEL.

 

 

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