Irene kocht Pudding zum Einschlafen

Irene kocht Pudding zum Einschlafen. Zwischen 1 und 4 Uhr kann sie „immer nicht schlafen“. Und dann schlurft sie sich vor den Einbauherd ihrer kleinen Kochnische und lässt Milchtropfen in das Puddingpulver kullern. Die wollen sich dann, auch immer, hartnäckig nicht auflösen. „Und dann werde ich müde, so müde…“

Mit Einschlafproblemen starten wir heute unser Erzählcafé Streuselkranz in der Guten Hoffnung leben. Treffpunkt: wie immer das Café Bistro Jahreszeiten gleich nebenan. Schlafprobleme, erklärt uns Ingrid, kommen von der allgemeinen Bewegungseinschränkung am Tag, „auch, wenn man hier im Seniorenzentrum und im Quartier viel turnen kann: Fit für 100, Henks Muckibude, Gymnastik, Yoga…“.

Auch Erika zählt eher zu den Agilen, und verarbeitet doch immer noch ihren Krankenhaus-Aufenthalt, der sie ziemlich durchschüttelte. „Ich habe mir da ein Zimmer mit einem Queer geteilt!“, informiert sie uns heute. Und wir erfahren, dass in den zwei Wochen, in denen Erika versuchte, ihr schon etwas älteres Herz zu beruhigen, der Zimmernachbar ihr sein noch junges ausschüttete. „Also der war kein Mann und keine Frau, aber beides, ein Hermaphrodit, oder wie sagt man?“ „Divers“, schaltet sich Gudrun ein und informiert die fragenden Gesichter, dass das Gesetz zur Eintragung eines dritten Geschlechts bereits verabschiedet wurde.

Ich spüre die Unsicherheit der Frauen, stillschweigend scheinen sie sich gerade etwas auf der ‚numerischen Erklärung‘ eines „dritten“ Geschlechts auszuruhen: Neben männlich an 1. und weiblich an 2.? Oder ‚1‘ für ‚weiblich‘ und ‚2‘ für ‚männlich‘? Doch dann melden sich von vielen Seiten immer mehr Frauen zum Thema Gender zu Wort: „Unser Nachbar hat sich ’mal umoperieren lassen, und Hormone hat sie dann auch genommen.“ „Ich kannte mal einen, der tänzelte immer so und man spottete über ihn.“

„Ich glaube, man wird geboren mit dem Gefühl, wen man lieben und wem man gefallen will. Hauptsache ist doch, man wird zurückgeliebt, oder?“

Mich erstaunt die Offenheit, in der sich die Frauen einer Generation der 40er- und 50er-Jahre in unserer Runde über Geschlechtertabus, Erwartungen und Zuschreibungen unterhalten. Sie alle sind mit dem Paragraphen 175 großgeworden. Es seien vor allem die Eltern gewesen, erzählen zwei Frauen, die geschwiegen, geschützt, auch geleugnet und insgesamt viel Energie investiert hätten. Sie wollten ihren schwulen, lesbischen, bisexuellen Kindern oder jenen, die sich falsch in ihrem Geschlecht fühlten, ihr Leben in der Gesellschaft ermöglichen und sie zugleich vor dieser Gesellschaft zu schützen. Eine Zerreißprobe, an der Familien zerbrachen.

Sie fahren bis ans Ende der Welt, um ‚umweltreine‘ Lebensmittel zu bekommen. Wir haben früher geputzt, mit Kind auf’m Bohnerbesen.

Wir bleiben noch ein bisschen beim Regenbogengespräch, bis eine, wie so oft im Erzählcafé Streuselkranz, das Gesprächsthema abrupt auf Rezepte, Weißwäsche in der Nachkriegszeit oder die Gegenwart in Oberhausen Sterkrade lenkt.

Rosemarie erzählt davon, wie ihre Mutter und sie früher gewaschen haben. Da wurde Bleichsoda heiß gemacht: „Wäsche rein, ausspülen, mit Waschpulver kochen, in Sil spülen und durch die Mangel ziehen“. „Und auf einen Tannenzapfen kommt Kandis, dann frischer Korn oben drauf und runter damit!“, quittiert Erika. Gesund, lachend und so schön-scheppernd.

„Mein Mann und ich haben von unseren Freunden einen Gutschein bekommen: Mit Hängematten in einem Wald in Duisburg zu schlafen“, erzählt Katrin, die das Café Bistro Jahreszeiten zusammen mit ihrem Mann leitet und die leidenschaftlich naturverbunden ist. Die Runde der 70-, 80-, 90-Jährigen in unserem Erzählcafé, das sich hier an jedem vierten Samstag im Monat in der Guten Hoffnung trifft, schweigt nun etwas und sieht Katrin fragend an. Die merkt sofort, wie die Damen versuchen, die ‚first world problems‘ nachfolgender Generation einzuordnen. Dann löst sie lachend auf: „Wir sind dann hier eingestiegen und da wieder ’runtergeflogen, hehe.“

„Hirn vom Huhn schmeckt wie Sahne.“

Eleonore erzählt vom Kloster, vom Nonnenkonvent und davon, wie die Schülerinnen Kirschen pflücken, darunter auch ihre Schwester, „wissbegierig wie sie war, fleißig und mit einem festen Plan“. Bei den Nonnen konnte sie studieren, eine Ausbildung machen und später selbst unterrichten, ja, einen Beruf ausüben. Doch die Zeit im Kloster sei auch gemein gewesen: „Es gab Rhababerkuchen und Kirschkuchen. Den Rhababerkuchen für die Mädchen, den Kirschkuchen für die Nonnen.“

„Sauerampfer kann man essen, die Herzchen an den Gräsern und Kleeblüten haben wir auch ausgelutscht“, streut sich von einer anderen Seite ein. Der Zeitvertreib und auch die Nähe zur Ernte in den Wäldern ist inzwischen reritualisiert. Nicht so ein Nachbarsjunge alltäglich, der durch Rosemaries Kohlenkeller kletterte, um oben Brot zu stehlen.“ Aber vielleicht haben wir das nur noch nicht gemerkt.

Erika erzählt von den Lohntüten und davon, dass die Kneipen zeitweise nur Saft an die Arbeiter ausschenken durften. Eine Wohnung kostete zur Zeit des Kohleabbaus in seinem Hochbetrieb, über den Daumen gepeilt, 40 DM, Stromschulden seien an der Tagesordnung gewesen.

„Mit wenig Geld verliert man den Grund für all die harte Arbeit. Je mehr Arbeit man hatte, desto mehr Spielhallen gab es.“

„Ach, heute wird der Betrag für meine Lottozahlen automatisch von meinem Konto abgebucht, und der Gewinn wieder drauf“, lacht Irene. „Da muss ich mir die Finger nicht so dreckig machen wie die Frau, die ich mal in Las Vegas gesehen habe. Die hatte ganz schwarze Griffel von all den Münzen. Ich nehm‘ immer die gleichen Zahlen, und manchmal lohnt es sich. Ein bisschen.–“

„Aber weißt du“, fixiert mich Irene mit ihren weichen Augen, „wenn ich richtig was gewinnen würde, könnte ich ja erst recht nie mehr schlafen, und wer soll mir all den Vanillepudding bezahlen? Ha ha.“

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

CAPTCHA-Bild

*