Königsblauer Rasen

Es geht um die Beziehung einer Tochter zu ihrem Vater. Es geht um eine gewachsene Verbindung zueinander in der Leidenschaft des Fußballs. Und es geht um ein Bleiben des Vaters in den Spielen des FC Schalke 04.

„Kannst Du darüber reden?“

„Es ist mein Vater. Du, aber heute ist es ja schön. Weißt Du, die Geschichte hat meinen Vater bei mir gelassen.“

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Papa kommt aus Gelsenkirchen. Wir sind immer zusammen zur Glückauf-Kampfbahn gefahren. Im Stadion habe ich laufen gelernt. ‚Der Steiger kommt‘ war eines der ersten Lieder, die ich als Kind singen konnte: „Glüüückauf, Glückaauf, deer Steiger kooommt…“.

Die Zeit, die ich mit meinem Vater in der Heimspielstätte des FC Schalke 04 verbracht habe, hat mich tief geprägt. Unsere kleine Fangemeinschaft habe ich auch später mit nach Ostwestfalen genommen. In Bünde verbrachte ich die Jahre meiner Ausbildung zur Krankenschwester. Im Ruhrgebiet lernte ich dann meinen Freund und heutigen Mann kennen. Mein Vater hat sich ein Loch in den Bauch gefreut, als ich ihm sagte, dass ich nun öfter in Essen an der Ruhr sein würde. Denn Essen ist gar nicht weit weg von Gelsenkirchen und der Ortswechsel brachte mich wieder zurück; näher an unser heimliches Stück vom königsblauen Rasen.

Papa hat im Bergbau gearbeitet. Er litt unter einer Staublunge, hat immer viel geraucht. Die gesundheitlichen Folgen machten sich bemerkbar, als ich mit meinem dritten Kind schwanger war. Auf merkwürdige Weise begannen die Dinge, sich miteinander zu verbinden: „Der Papa hat Lungenkrebs, aber alles gar nicht so schlimm“, überbrachte er mir die Nachricht. ‚Ganz schön‘ hätte ich so auch meine Schwangerschaft nennen können –. Doch mit jedem Monat, in dem das Kind wuchs, freute mein Vater sich anders über sein Opa-Sein, über seine Enkeltochter. Ich wurde immer dicker, mein Vater wurde immer kränker.

Es hat eine Zeit gegeben, da war ich sehr böse. Heute kann ich meine Eltern verstehen, sie wollten mich schützen. Denn auch ich verschonte sie ja, wollte nicht ehrlich sagen, wie es mir in meiner Schwangerschaft wirklich ging. Ewas stimmte mit meiner Blutgerinnung nicht, sodass ich mich die meiste Zeit in meinem Bett aufhalten musste; oder wenigstens in der Nähe von meinem Zuhause. Heute steht in meinem Blutpass, dass meine weißen Blutkörperchen einfach auf eigenwillige Weise im Reagenzglas andicken. Das tun sie nur dort und das ist ganz unbedenklich. Damals veranlasste diese „Gerinnungsstörung“ aber eine besondere Aufmerksamkeit auf das Leben meines Kindes. Und diese Aufmerksamkeit durfte kaum geringer sein als das Abschiednehmen von meinem Vater.

Der Bau der Arena war in den letzten Zügen, und im Mai hatte Papa Geburtstag. „Ich brauch Karten!“, habe ich einen Freund beauftragt. Irgendwann im Herbst, so plante ich, würde ich mit meinem Vater ins Station gehen wollen. Im November war das allererste Länderspiel, Deutschland gegen Finnland. Die Karten bekam ich; aber wie konnte ich sie meinem Vater geben? „Wenn ich Dir jemals wichtig war, dann fährst Du jetzt mit mir zu meinem Papa“, bat ich um Hilfe. Und begleitet von meiner besten Freundin konnte ich an dem Geburtstag meines Vaters tatsächlich in seinem, unserem Zuhause sein. Er sah gut aus, mein Vater; so, dass ich gar nicht richtig begreifen konnte, was mit ihm los war. In einem stillen Moment gab ich ihm die Karten. Und da wurden seine Augen ganz matt. Ich hatte ihn so traurig noch nicht erlebt. Er weinte: „Ich kann es nicht. Wir werden da nicht hingehen“, schaffte er zu sagen, während ich erst gar nicht damit anfing, verstehen zu wollen.

Am 19. Mai 2001 war Bundesligafinale. Schalke ist Meister geworden. Für vier Minuten. Wir haben am Telefon geweint vor Freude: „Die haben das jetzt für Dich geschafft, Papa! Guck mal, der Rudi!“; die beiden kannten sich aus ganz jungen Jahren, wie man sich vom Bolzplatz halt so kennt. Später gab es sporadischen Kontakt, immer dann, wenn mein Vater im Gelsenkirchener Kreise irgendwas mit Fußball organisierte.

Doch mit den Bayern, die dann in Hamburg das entscheidende Tor schossen, war die Meisterschaft ausgespielt. Und die Traurigkeit fing an.

Manchmal haben wir am Telefon nur geschwiegen. Ich wollte es nicht, dieses Kind, schwanger sein, und meinen Vater verlieren. In den letzten Wochen verschlechterten sich meine Werte, mein Kind ließ auf sich warten. Mein Vater wurde unruhig, er war ängstlich und beinahe schimpfte er, wann das Kind endlich komme. Er steigerte sich so in seine Angst hinein, dass er einen Anfall bekam; genau zu dem Zeitpunkt, als meine Tochter sich entschloss, auf die Welt zu kommen.

Ich lag im Kreißsaal in Essen, mein Vater lag in Damme/ Niedersachsen, 200 Kilometer von mir entfernt. Zur Zeit meiner Wehen wusste ich nicht, ob er überhaupt noch lebt. Und ohne diese Gewissheit fühle sich die Geburt für mich wie eine taube – Ent-Bindung – an: Ich hatte Leben auf die Welt gebracht. Aber ich konnte nicht sicher sein, ob jener noch da war, der mich auf die Welt gebracht hatte. Erst, als ich wusste, mein Vater lebt, und erst, als ich spüren konnte, dass sich ein Sinn zusammenschließt, da konnte ich mich freuen.

Nach drei Wochen, in denen meine kleine Tochter auf der Welt war, brach ich abermals zu meinem Vater auf. Einige Freunde fragten mich verhalten, warum ich so lange damit gewartet hatte. Ich wusste, so gab ich mir selbst die Antwort, wenn mein Vater seine Enkeltochter sehen würde, dann würde er sterben.

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Wir haben schöne Fotos gemacht, Papa und ich. Eine Filmkamera hatte ich eingepackt, doch aufnehmen konnte ich ihn nicht mehr. Er hatte keine Schmerzen, aber er war viel zu traurig, um ‚festgehalten‘ zu werden: „Du musst aufstehen“, stachelte ich ihn an, „Sportschau kommt!“ Wir wussten, es würde unser letzter gemeinsamer Fernsehabend mit Gerhard Delling sein. Mein Vater hat es zugelassen, ich nicht. Ich war so ‚unprofessionell‘, denke ich aus meiner heutigen Sicht als Sterbebegleiterin. Katheterisieren – konnte ich meinen Vater, weil die Kollegin aus meiner Sicht versagte. Das übernahm ich. Das gelang mir. Aber ihn gehen lassen, akzeptieren, dass meinem Vater sogar das Sprechen schwer viel, konnte ich nicht. „Lieber leise sein“, sagte er zu mir.

In Augenblicken wie diesen reduziert sich die Atmosphäre auf alles Elementare. Das Kind in mir rebellierte, schrie innerlich: ‚Papa, geh nicht weg‘. Die Erwachsene sagte: „Am Siebten hab ich Geburtstag, Papa, Du musst kommen, ich würd’ mir nichts mehr wünschen!“

Mein Vater aber stöhnte nur schwach: „Ich schaff das nicht.“ Er ist nicht mehr zu meinem Geburtstag gekommen. „Drück den Jungen“, hat mein Vater gesagt. Und dann ging ich.

Irgendetwas hatte mein Herz berührt. Es war nicht schmerzhaft. Und es war vor allem nichts, das erst den Umweg über den Kopf macht, dort, wo man sich souveräne Vorstellungen von so einem Moment hätte machen können. Also bin ich aufgestanden und habe das Klo geputzt. Dann kam mein Großer die Treppe unseres Hauses zu mir hochgelaufen und überbrachte leis: „Die Oma weint am Telefon“.

Die Bestattung meines Vaters sollte an meinem Geburtstag sein. Das ging für mich gar nicht. Ich litt. Es gab Streit. Meine Mutter nahm mir übel, dass ich mich nicht überwinden konnte, mit in die Leichenhalle zu gehen. Allein der Name machte mir Schaudern. Der Name für das ‚dort‘, wo sich mein Vater für diesen Moment in der Zeit aufhielt –. Ich klammerte mich an mein kleinstes Kind und verzweifelte innerlich über das Leben in all seiner rücksichtslosen Einfachheit, über den großen Zusammenhang von Geburt und Sterben.

Der beste Freund meines Vaters hätte letztlich nicht so schnell anreisen können, das bedeutete eine Terminverschiebung der Beerdigung und meine Rettung. An meinem Geburtstag selbst aber rief mich die Bestatterin an, die ich noch aus Kindertagen kannte: „Ich war gerade bei deinem Vater. Hast du nicht Geburtstag heute? Ich glaube, er wartet auf dich! Ich hol dich jetzt ab. Sowas hab ich noch nicht erlebt! –“. Ich war perplex, irritiert, mir war unbehaglich. Doch die Bestatterin drängte mich noch im Schlepptau immer wieder: „Komm mit! Der hat noch was für dich!“

Die Fotografie fiel mir ein, die ich von meinen drei Kindern habe machen lassen. Sie packte ich, immer noch widerwillig, in meine Tasche, und ließ mich zu meinem Vater bringen.

Und – er hat auf mich gewartet –. Friedlich lag er da, mit einem Lächeln auf den Lippen. Er war nicht verändert, nicht blass, nicht nach den langen Stunden seit seinem Tod. Es war mein Vater. Die Worte der Bestatterin klangen noch in meinen Ohren – ‚Du hast Geburtstag und ihr wolltet doch noch was zusammen machen‘ – als ich, so allein mit meinem Vater, Abschied nehmen konnte: Das war das schönste Geschenk meines Vaters an mich. Ihm gab ich das Foto, für den Weg, für seine lange Reise. Zum Länderspiel bin ich nicht gefahren.

Die Zeit verging. Und die Versöhnung mit meiner Traurigkeit suchte und fand ich immer wieder in dieser letzten Geste meines Vaters. Unsere Begegnung in dem Gebäude – wo verstorbene Väter auf ihre Töchter warten – machte mich rund mit ihm, mit meiner Erinnerung an unsere Routinen, an unsere Freuden, an mein letztes Geschenk für ihn, das er annahm – das er mitnahm. Aber etwas fehlte –.

Mein Vater trug gern blau und besonders liebte er sein Schalke-Trikot. Sein altes erbte mein Sohn: Von oben nach unten und von unten nach oben krempelte ich die Hose an den kleinen, stolzen Jungenkörper. Auch später noch würde er sich an seinen Opa erinnern und es tragen können. Denn diese Dinger sind unsterblich. Und so eines wollte auch ich.

Meine Kinder schlugen gleich Raul vor, den Weltkicker sollte ich mir auf den Rücken flocken lassen. Aber ich dachte: Nein. Assauer. „Flocken Sie mir Assauer“, bat ich im Kopierladen. Ungläubig sah man mich an, doch ich wiederholte ruhig, fast leise: „Die Eins.“ Als das Trikot fertig war, wusste ich gleich den nächsten Schritt zu gehen. Ich wollte ein Autogramm von keinem Geringeren als meiner neuen Lebenszahl. Mit dem Wunsch nach der Signatur des Fußballstars mit Gelsenkirchener Lokal-Kolorit und dem Image eines eitlen Machos auf meinem Trikot recherchierte ich und fand nach einer Weile den Kontakt zu ihm. Ich rief an, bei Assauers, und hatte gleich seine Tochter am Telefon, der ich meinen Wunsch erklärte. Sie hörte geduldig zu und reagierte spontan positiv. Ihr Vater säße in diesem Moment neben ihr, er würde sich sicher freuen über mein Interesse. Und so fuhr ich zu Rudi Assauer und bekam mein Autogramm.

Doch immer noch fehlte etwas. Ein letzter Schritt, dort, wo ich meinen ersten tat, an der Hand von Papa. Ich musste ins Stadion. Und zwar dann, wenn Schalke gegen Mainz spielt. Mein Vater würde dort auf mich warten.

Und so saß ich, in meinem Assauer-Trikot und zusammen mit meinen Kindern, die mir die Karten zum Geburtstag schenkten, elf Jahre später in der Arena ‚AufSchalke‘. Die ‚Steiger‘ sangen das Lied. In Bergmannskluft konzertierten sie „Glückauf“. Das war für mich wie Ankommen. Ich habe ununterbrochen geweint, richtig laut geschluchzt zwischen den Fans. Es waren Freudentränen. ‚Wir haben auch gewonnen‘, dachte ich so für mich und an das Leben, an das Spiel und an den Ernst, an Halbzeiten, Auszeiten und Lebenszeiten, an Spielfeldränder, Fehlentscheidungen und neuen Mut, an Mäuercken-Laufen, das langsame Einlaufen von Stürmern und das schnelle Gehen von Vätern und ihr Bleiben.

Ich war an dem Platz, wo auch mein Vater ist. In dem Moment, an dem Platz, nur für mich. Die Wärme war zwischen den Fingerspitzen zu fühlen. Diese Wärme, die ganz still und ruhig ist und in Deinen Bauch geht, wenn die Meute um Dich tobt.

„Du fährst allein zum Training?“, fragt mich immer mal wieder einer. Und ich sage dann: „Ich bin da nicht allein.“

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