Wie habt ihr eigentlich die EU wahrgenommen, was hat sich für euch damals geändert, an was denkt ihr, wenn ihr auf Europa zurückblickt?
„Ich denke an meinen Mann, als er sich alles ans Revers heftete, das er an Nadeln besaß.“
Mit der deutsch-sowjetische Freundschaft sollte sich Ingrids Mann brüsten, um Freizügigkeit genießen zu können, um die Schwiegereltern an Sylvester in Westdeutschland besuchen zu können. Mit Ingrid war er in den 70er-Jahren ins Ruhrgebiet, nach Oberhausen Sterkrade, gezogen. Ingrid erzählt von den Stempeln an den Grenzkontrollen, von Dresden, der Heimat ihres Mannes, und von der eigentümlichen Zerrissenheit: der permanenten Angst, ertappt zu werden und dem wachsenden Mut, über den Ingrid sich selbst manchmal habe wundern müssen.
Einem Grenzbeamten habe sie einmal harsch entgegnet, ihr Mann befinde sich selbst nicht weniger „rechtschaffen“ wie ihr Gegenüber und habe einen ebenso soliden Job wie dieser in seiner Funktion –— . Zeitgleich, so erzählt Ingrid der Runde unseres Erzählcafé Streuselkranz heute, habe sie ihr Kaffeeservice nach und nach zu jedem Geburtstag in der Familie, den die Stasi ja qua Geburtenregister hätte überprüfen können, per Post bereits vor ihrer Flucht nach Westdeutschland versandt. „Und als dann dieser Mann mit der Zeitung kam, rutschte mir das Herz in die Hose, ich dachte ‚Jetzt haben ’se dich“. Aber der wollte Ingrid bloß ein Abo verkaufen. „Ich war so sauer! Das dumme Abonnement einer Illustrierten und ich glaubte, ich würde jetzt inhaftiert!“
Kurz, nachdem Ingrid es an der Tür abgelehnt hatte, wöchentlich volksseigene Damenfrisuren in ihren Briefkasten geliefert zu bekommen, sei sie dann mit ihrem Mann und dessen Bruder nach Westdeutschland abgehauen.“
Die Frauen kommen ins Erzählen über all die Ängste, Einschränkungen, ja die Knappheit haptischer Erfahrungen: „Wir haben an der ersten Banane geleckt wie an einem Eis“. Und während Ingrid im Westen lernte, dass Schokostreusel die „Siiieedfrischte“ zu einem Split machen konnten, versuchten andere, über das Meer zu schwimmen oder die Mauer direkt zu überwinden.
Die Kinder, die in den Zonen gleich neben den Wehrtürmen gelebt haben, hätten „grau“ ausgesehen. Ingrid steckt ihnen gezuckerte Butterkügelchen zu, „den Honig der DDR“. An der ersten Paprika habe sie die anmutigen Kurven bewundert, auch wenn die EU-Richtlinien sie heute irrwitzig vernormten.
Von den individuell erinnerten Geschichten zur Deutschen Teilung lassen auch die Wertmarken und Bezugsscheine während des Krieges davor nicht lange auf sich warten. Auch die eingefärbten Wehrmäntel, an die die Frauen sich Eichenblätter als Zierat applizierten. „Deshalb habe ich mit Argusaugen auf die Zehen meiner Tochter geachtet!“, ruft Rosemarie von der Seite ein und erklärt mir sogleich den Zusammenhang zwischen zu kleinem Schuhwerk und dem heute so empfundenen Luxus, keine „Hammerzehen“ mehr fortgepflanzt sehen zu müssen.
„Die Bauern mussten uns aufnehmen, als wir im Sudentenland von den Tschechen zwangsevakuiert wurden“, berichtet Heide, während sie nachdrücklich die kleinen Kaffeeweißerklümpchen in die Koffeinfreiheit einrührt. „Von der Gemeinde wurden uns ein Stuhl, ein Ofen und ein paar Decken zugewiesen, gespielt haben wir mit Lehm, Holzscheiten und einer Puppe.“
Die Bauern, erfahre ich, seien in der Lage gewesen, dass sie besser mit ihrem Vieh umgehen mussten als mit ihren Kindern. Die seien, in Holzpantinen und Schafswollsocken, sich selbst überlassen, über die Höfe geschlurft, schulgespeist und Ingrid angenehm unaufgerege Spielgesellen.
Europa 2019 würde sie per Brief „wählen gehen“, sagt Liz, und hält wie demonstrativ ihre Brille in die Sonne, so als ob sie nun auf lichtere Themen kommen wolle: „Deine Brille musst du putzen!“
Die Kuchenkrümel beginnen langsam, zu schwitzen, als Roswitha noch den Tipp gibt, dass Joghurt besonders gut zu ihrer Abendserie passe, wenn man Eierlikör einrühre. Die Nähmaschine habe sie nie bekommen, die ihre Mutter ihr in Aussicht gestellt hatte, sobald die selbst sich über eine Küchenmaschine sollte freuen können. Aber dafür habe Roswitha ihre Erfüllung nun darin gefunden, Mützchen für die Säuglingsstation des St. Clemens-Hospital zu stricken.
Als ich sie frage, wie man eigentlich stricke und gespannt darauf warte, wie sich etwas erklären kann, dass sich über Jahrzehnte wie einfach macht, lautet die Antwort:
„dann-teilst-du-die-maschen-auf-die-nadeln-auf-und-machst-glatt-bis-du-die-gleichen-maschen-drauf-hast“