Ein brombeeriger Glitzerton liegt auf Ingrids Lippen. Eine Perlenhalskette – die Jahre gebraucht haben muss, um sich so passgenau zu schmiegen – legt sich warm in das Dekolleté der 80-Jährigen.
Etwas ist heute anders an Ingrid. Es vergeht kaum eine Minute, da lüftet Katrin, dass Ingrids Enkel ein aufsteigender Opernsänger sei und im Dachstudio der Dinslakener Stadtbibliothek einen berührenden Auftritt gehabt hatte.
Katrin umreißt mir kurz die Vita des Mannes, der, begleitet von zahlreichen Stipendien und Förderprogrammen, wirklich gut muss singen können, und mache mich auf ein füllendes Programm für diesen Nachmittag gefasst. Doch da sagt Ingrid auf meine Frage, was für ein Gefühl es für sie sei, wenn der eigene Nachwuchs so erfolgreich ist, nur sehr bescheiden und mit lächelnder Wärme: „Ich habe meinen Enkel lieb. Er war als kleiner Junge so ulkig!“
Er hat, erfahren wir von Ingrid, die Oma immer zum Bleiben überreden wollen: „Bleib doch hier, du kannst doch bei Mama und Papa im Bett schlafen!“, lacht Ingrid. Ich muss mitlachen und freue mich über Ingrids Gelassenheit, die Grund für das Glück von Ingrids Kindern und Kindeskindern sein muss.
Wir treffen uns an diesem Samstag zum rund dreißigsten Mal, um Sterkrader Geschichten und Geschichte hier in der Guten Hoffnung zu sammeln. Über Florian Conze, den mit Stolz geherzten Enkel Ingrids, kommen wir auf die Ruhrkultur zu sprechen. Dinslaken biete schöne Konzerte, die Luise-Alberts-Halle in Oberhausen sei meist gut gefüllt. Den letzten Niederrheinanzeiger knittert mir Christel unter die Nase: „Die wichtigste Frage in unserem Alter ist aber immer: Wie kommen wir dahin?“
„Ach, aber wenn uns nix einfällt, werfen ’wa halt wieder Pinnecken“, grölt Erika in ihrer rustikal-unterhaltsamen Stammtischstimme. Das Spiel, dessen Regeln ich sofort erfragen muss, funktioniere mit eine Rinne, die man mit einem gefundenen Holzstock in den Sand kratze und einem weiteren Stock, mit dem man ihn in die Höhe katapultieren und wieder auffangen könne: „Hat nix gekostet!“
„Wie erklären Kinder einander eigentlich ihre Spiele?“, frage ich Erika. „Sie schauen voneinander ab“.
„Oh, ich hatte eine ganze Bibliothek, in der sich jeder bedienen konnte“, schmunzelt Ellen aus einem erstaunlich jung gebliebenem Gesicht und meint damit Holzklötzchen, die ganze Bände darstellen konnten.
„Die Sachen waren, als das wir sie wollten,“ resümiert Erika, in einem Mix aus der tradierten Nüchternheit harter Zeiten und einer schönen Melancholie, die glücklicherweise daraus werden kann.
„Die alte Wolle von Oma musste auch immer herhalten“, ergänzt Katrin. Um das Abnehmen gespannter Muster und viel Konzentration sei es bei Finger- und Abklatschspielen gegangen, stimmen die anderen Frauen ein. Die Aufzählung Ruths allein musiziert eine Kurzweiligkeit, die Regentage aus den 50er-Jahren in neuer Tristesse zerstreuen lässt: Knickern, Kreiseln und Hümpeln, Zählen, Kästen und Erlösen.
Die Kinder von Ingrid spielten dann in den 70er-Jahren schon mit Stabilo- und Trickbaukästen. Mit den eigenen Brüdern sei es zu ganzen Kettenkarussels gekommen, erzählt Erika nicht ohne Stolz.
Jedes Holz, das wir fanden, war unser Spielzeug.
Wie schon so oft kommen die Frauen auf ihre Handarbeiten zu sprechen. Im Dialog entwickele ich dann immer eine Wissbegierde, als hätten sie mir beim Erzählen heimlich etwas angestrickt. Ich muss mir dann selbst erklären, was an der Erzählung der Frauen allein für mich so reißfest, abgesäumt und wärmend wie eine Strickjacke wird – so eine mit dickem Zopfmuster und goldenen Knöpfen. Das selbstgenähte Nadelkissen war für Else nicht nur die erste Prüfung. Es hat noch viele Nadeln halten sollen, die mit bunten Köpfen und welche mit silberfarbener Glasur, für Stiche aller Art wie Kreuzstich, Hexenstich und Geradstich, Blindstich und nicht zu vergessen: für die Raupennaht!
„Wenn ich nachts ins Bett machte, musste ich auch im Winter im Inlay schlafen, weil wir keinen Ersatzbezug hatten.“ Der große Familientopf Erbsensuppe wurde, erzählt Rosemarie, mit Soda eingeweicht, damit es sonntags etwas Aufgewärmtes geben konnte.
Wenn die Frauen von der Waschküche erzählen, in der aus Zuckerrüben Sirup gekocht wurde, kann ich es mir inzwischen schon behaglich machen. Sie haben mit all ihren Erzählungen inzwischen einen Raum geschaffen, der sich von Mal zu Mal mit weiteren Gegenständen füllt. Vor allem mit dem, das sie früher nicht sein durften.
Manchmal stechen grausame Geschichten wie Metzger hervor, denen schnapsgetränkte Schweine in schlachtender Weise abrutschten. „Das Schwein hat so gequietscht, dass die ganze Siedlung bis ins Mark erstarrte!“, graust es Lore noch heute. Dieser Metzger hat keinen Schlag mehr machen dürfen. „Doch diese Tierquälerei“, krächzt Katharina sich dann doch zu Wort, „sei nichts gegen die Tiertransporte, die sie heute machen.–“
In etwas unsanftem Übergang erfahre ich von Lores letztem Einkauf beim Fleischhacker, und dass man für die Zubereitung von Gänseschmalz den sogenannten Schweineflomen brauche. ‚Nur fremdartiges Fett wird zusammen fest‘, überlege ich – das hatte ich mir so auch nie bewusst gemacht.
Ihre Jungs, knüpft Katrin an die Spiele an, würden ihre Zeit am liebsten auf dem Trampolin verbringen. Die vielen Tiere, mit denen sie auf einem ausreichend großen Grundstück in Dinslaken leben, erübrigten den Zeitvertreib von selbst. Kurz bevor der Sturm Friederike aufgezogen sei, hätten sich die Ziegen ganz allein in ihr Häuschen zurückgezogen. Nur die halbwüchsigen Menschen habe es auf ihren Kettcars wie magisch ins stürmische Wetter gezogen. Noch bevor Katrin sich ernsthaft Sorgen hat machen müssen, seien sie mit roten Wangen um die Ecke geschossen. „Die waren völlig entsetzt“, berichtet Katrin, noch ein bisschen zwischen sorgenvoll und froh, dass ihre Söhne nun wenigstens Naturgewalten einschätzen könnten:
„Sie haben gesehen, dass da auch mit größter Anstrengung kein Erfolg zu machen war!“