Über Fingerlecken, Butterschlingen und vergoldeten Modeschmuck zur Zeit hitzigen Klimas

Alles an ihm möchte wirken. Die kleinen Reflexlichter entlang des Glasschliffes. Die vielfachen Facetten der Rauten. Die intensiv durchwirkte Leuchtkraft von rubinroter Farbe und Smaragdgrün darin. Die Scharniere verborgen zwischen den Gliedern dieses ultragroßen Amuletts. Pharaonisch die Lochbänder unter den runden Glitzersteinchen, ebenfalls vergoldet eingefasst. Sie werden es sein, die als erste blättern werden.

Die Fälschung dieser Halskette wird ganz leicht auf ihrem Dekoltee zum Liegen kommen. Noch legt Irmi Glied um Glied stolz auf dem Kaffeetisch aus, damit wir alle staunen können.

Wir treffen uns heute wieder zum Erzählcafé Streuselkranz im Café Bistro Jahreszeiten, um unsere Beobachtungen auszutauschen. Im Blick von heute auf die 50er-Jahre, mit grauem Star auf Zeitfragen von gestern und morgen. Eigentümlich zackig sind Irmis Handgriffe, die so gar nicht zu der Anmut der Unechtigkeit dieses Geschmeides passen wollen.

Ihren neusten Schatz hat Irmi bei einem der vielen Aussteller ergattert, die zum Sommerfest der Guten Hoffnung in Oberhausen Sterkrade ihre Bauchläden ausgeklappt haben. Seit fast zehn Jahren streichen sie, immer geübt und allein darin bereits überzeugend, ihre Waren auf gestärkter Tischwäsche glatt. Das Sommerfest bleibt auch für die Anwohner aus Sterkrade ein wichtiger Treffpunkt in der programmfreieren Dürre zwischen Ostern und den ersten Laternen und Kürbissen. Die Bewohner geben Einblick in ihren Alltag im Seniorenzentrum auf dem alten Gelände der Gutenhoffnungshütte. Interessierte können „schon einmal schauen.”

Irmi ist eine lebensfrohe Frau um die 70. Sie liebt Kreuzfahrtreisen, scheppernden Modeschmuck und lässt sich regelmäßig auswärts „zum Mittag verführen“. Heute erzählt sie uns von einem Café namens Larissa in der Oberhausener Innenstadt, in der sich Senior*innen des Standorts, aber auch aus dem gesamten Revier, treffen. Eine Ecke dieses Cafés sei „Sing-less“ vorbehalten, über den Rest verstreuen sich Stammgäste, Strickrunden und dann und wann eine geschlossene Gesellschaft.

Ich komme auch nach mehreren Anläufen von Irmis Schilderungen nicht ganz hinter das Konzept dieses Cafés, in dem Tische für „vier mal sechs und ein mal sechs Personen und eine lange Tafel“ stehen, wie Irmi mir aufgeräumt durchzählt. „Im Larissa“ trifft „der aparte Herr auf die adrette Dame“, begegnen sich Männer unter Männern und Frauen miteinander. Vielleicht einfach mal selbst vorbeischauen.

Und mir kommt der Gedanke, dass wir eigentlich auch mal über die Rolle von Liebe und Sexualität sprechen könnten. Und darüber, ob sich den Halbsatz der Frage „im Alter“ an sich überhaupt rechtfertigt?

Von den Frauen, die sich regelmäßig in der Guten Hoffnung zum Yoga oder zu einem Ausflug zum Waldsee in Hamminkeln treffen, zum Landschaftspark Nord oder zur Ruhrterrasse in Mülheim an der Ruhr, erfahre ich viel über Genuss. Er besteht vor allem darin, so erfahre ich: machen zu lassen. Nicht überlegen zu müssen, nicht mehr planen und vorausschauen zu müssen. Nicht kalkulieren, rechnen und auf Vorrat denken. Skills zum Kochen und der Picknicksplanung mit mehr als drei Kindern haben die Frauen hier sämtlich und allemal über Jahrzehnte ihres Lebens unter Beweis gestellt. Als Geschwisterkinder, Mütter, Schwieger-, Stief- und Großmütter, Tanten, Schwippschwägerinnen und beste Freundinnen. Aber sie müssen es nicht mehr, schon lange nicht.

Was bedeutet Genuss für euch? Was sind eigentlich eure ‚Guilty Pleasures‘? Habt ihr die überhaupt? Lasst ihr euch Fragen zu euren E-Bikes gefallen und denkt ihr auch manchmal über euren Konsum nach?

„Meine Mutter hat einmal gesagt, Schlingen ist auch eine Form von Genuss!“

„Für mich bedeutet Genuss, sich die Finger abzuschlabbern. Wenn man das früher als Kind tat, war die ganze Hand nicht mehr länger dran.“

„Also ich mag Paradiescreme…“

„…und ich Handcreme und dann diese Peelinghandschuhe von DM drüber – eine Stunde einwirken lassen!“

„– herrlich!“

Das eine Generation zu fragen, die hamstern musste und denen Amazon Prime eine Unerhörtheit durch den Äther bedeuten würde, ist schon frech. Aber ich will Antworten.

„Also wenn du auf den Klimawandel hinauswillst, so sind doch die ganzen Unternehmen daran schuld“, entgegnet mir Elly, entschuldigend und ein bisschen beleidigt. „Wir kleinen Leute können daran doch gar nichts ausrichten“, führe ich den Satz mit zwei Sekunden Vorsprung für sie in meinem Geiste zu Ende. „Natürlich versucht man, in seinem Alltag ein bisschen was zu tun, nicht allzu viel Schaden anzurichten, aber mein Rollator macht keine Abgase“, grinst Friederike. Ich biete weiter an, zu sagen, „na, ich weiß schon, ihr musstet ja erleben, was Hunger bedeutet, was es heißt, Kartoffelschalen auszukochen und die Ächtung eines Nachbarn mitzuverfolgen, der Fleisch von einem ganzen Schwein vergammeln ließ, aber könnt Ihr euch vorstellen, heute wieder auf Dinge zu verzichten?“

Meine Fragen kriege ich nicht richtig aus der Vorwurfsecke herausgefaltet, eckig die Argumente der Seniorinnen darin. Aber für die Frauen hier am Tisch, an einem hitzigen Sommertag im ‚Jahreszeiten‘ von Sterkrade, ist es nicht leicht, zu beantworten, wie die „Gürtel enger zu schnallen sind“. Von einer Generation, die diesen Schaden nicht angerichtet hat, aber vielleicht irgendwie implizit ihr Nutznießer war? Die alten, die mit aufgebaut haben? Oder ist es so, dass die Verantwortung anderer Industriestaaten und der Global Player jegliche Mühe einzelner Konsumenten schröpfen, wie Irmi sagt?

Doris nimmt – und dabei rollt sich auch bei ihr ein marmoriertes Glasperlenspiel zappelig vom Schlüsselbein in die erfahrenen Halsfalten hinein – das Angebot dieser Deutung gern an. Sie möchte – quietschgrün ihr T-Shirt mit vier Strasssteinchen auf der Brust – ihre Zeit auf dem Planeten mit Phlox im Garten und der Erinnerung an Milchblechkannen fristen, ohne schlechtes Gewissen. Und ich verstehe sie ein bisschen, auch wenn mich Umweltfragen umtreiben.

„Aber Diät mach ich!“, sagt Erika und behauptet, dass Mehl und Zucker wie Heroin für den Körper seien. Sie versuche gerade, auf beides zu verzichten. Mit der konservierten Erinnerung als Hintergrundrauschen daran, wie sie als Kind den Rahm abgeschöpft habe. Das ist ihr so lebendig wie Irmi die Lust auf „Fleisch ohne Ende“, das es in einer Ausflugsgaststätte am Baldeneysee zu essen gegeben habe.

Wieder muss ich an Methangas denken und an die Zukunft meiner Kinder, lasse mir aber von den Elektrosesseln in Henks Muckibude im Quartier erzählen und von frechen Fliegen, denen man mit Insektenköder zu Leibe rücken könne. „Die Plaumen im Garten kann ich erst spritzen, seit mein Mann tot ist. Der hatte nämlich biologisch gedüngt.“

Wir mäandern noch ein bisschen weiter durch klimapolitische Leitfragen der jüngeren Jahrgänge und diese unglaublich langen Leben. Sie sind aber inzwischen zu jung, um die langen Fußmärsche noch selbst zu kennen, um selbst diejenigen gewesen zu sein, die die „Gefallenen“ nach der deutschen Kapitulation haben identifizieren müssen, wohl aber alt genug, um mit unglaublich großen Köpfen die Mangelerscheinungen der 40-er Jahre zwischen kleinen Schultern – direkt unter den langezogenen Ohren – durch die zertrümmerten Städte zu tragen. „Immer, wenn ich von der Butter genascht habe, hab ich eine gescheuert gekriegt!“, poltert Irmgard. Die Mutter habe daraufhin mit dem Kochlöffel Muster in die Oberfläche der Fettschicht graviert.

Unnachahmlich.

 

 

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