Impfen bei Großvätern

Jahresanfang 2020. Café Bistro Jahreszeiten. Oberhausen Sterkrade.

Sie händigt mir eine glänzend-weiche Papierkarte aus. An den Säumen weichgefasst und beinahe gefettet über die Jahre: den Impfausweis ihres Sohnes von 1961. Mit krakeliger Schreibschrift, mit braunem Füller geschrieben, die Anmerkungen eines Arztes neben Stempeln. Dann zückt die faltige Hand von Rosemarie noch minikleine Mietverträge im A6-Format und gelbe Karten, auf denen der Kinderarzt Ernährungsempfehlungen für die Geburtsjahrgänge der Nachkriegsjahre gab: „Rotkäppchen“, „Lebertran“. Das Kind mal feste in den Arm nehmen.

Diese Abrechnungen und Dokumente zur Gesundheitsvorsorge ihrer eigenen Kinder vertraut mir Rosemarie an. Weil sie möchte, dass ich sie „vertrauensvoll veröffentliche“. Rosemarie tritt ja selbst noch auf, beim Leihentheater in Oberhausen-Sterkrade. Wenn nötig mit Rollator oder auch im Rollstohl: „Wenn es die Rolle erfordert.“

Ihre Papiere bieten Sicht auf eine Zeit, in der es wichtig war, etwas gegen die aus Mangelernährung groß gewachsenen Kindsköpfe zu unternehmen. Den Lohntüten ihres Mannes sind manchmal kleine Zettelchen beigefügt, auf denen er oder Rosemarie sich selbst mit ruhigem Kugelschreiber Stunden notierten, die im jeweiligen Monat auf dem Werksgelände der GHH geschafft wurden.

Rosemaries Hörgerät blitzt im Licht, das durch die großen Terrassentüren des Bistros auf den Kaffeetisch leuchtet. Es hat die Optik von Metall, das den Kunststoff besonders hervorhebt und mich deshalb rührt. Besonders bewegt mich, dass Rosemarie mir all das schenkt unter der Bedingung, ihr aufzuschreiben, wann ihr Sohn, vermutlich selbst bereits mehrfacher Großvater, gegen Masern geimpft wurde. „Warum willst du das wissen?“, lächle ich sie an. „Ja, für den Arzt! Ist ja wichtig für meinen Sohn, wann er geimpft wurde.“

Die Liebe ist niemals gestillt. Ich notiere mir das Datum längst vergangener Antikörper. Wie Sterne, die es längst nicht mehr gibt. Auf einer gelben Serviette. Und ich versichere mich, ob ich ihr die Heftchen nicht doch beim nächsten Erzählcafé in der Guten Hoffnung wieder mitbringen solle. Ob sie ihre Töchter gefragt habe, sind sie einverstanden? Nein nein, das alles brauche sie nicht mehr. Nur die Information, wann die Schnittimpfung gemacht wurde, deren Narben ich bei meinen Eltern, so verwaschen sie mit den Jahren wurden, noch immer messerscharf vor Augen habe:

Wie so Kohorten-Barcodes: 1945! PÄHM! Pech gehabt!

Heute gesellt sich ein Ehepaar zu uns ins Erzählcafé Streuselkranz, das, ich glaube es sofort und erfahre es noch schneller, eine Fotostrecke als Seniorenmodels hinter sich hat. In einem „Heim in der Schützenstraße in Bottrop“ residierten sie normalerweise, nur heute seien sie auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen im Café Bistro Jahreszeiten vorbeigekommen, weil sie eben eine alte Freundin in der Guten Hoffnung besucht haben.

Ihre Namen habe ich vergessen zu erfragen. Aber ich empfehle ohnehin, Senioren-Bottrop-Prospekt-Seniorenzentrum zu googeln, denn es handelt sich wirklich um zwei besonders schöne alte Menschen. Ihren Eindruck hätte man metaphorisch gut mit Prospektglanz erzählen könnte. Selbst digital leuchten sie in ihr Appartement hinein, in dem es sich gut wohnen und leben lasse.

Als Eisbrecher wählt der Mann eines dieser anekdotischen Klopfer: „Josef, Maria und Jupp / arebidden alle bei Krupp / Krupp hatt`se alle beschissen / jetzt arbeiten se alle bei Thyssen“, hahahah. „Und am liebsten bad ich nur“ – TROMMELWIRBEL – „in der Ruhr“.

Er erzählt smart und geschmeidig, während seine Frau ihn sanft anlächelt. Verliebt, das sieht man. Sie bestätigen einander in ihren Erzählungen, die zwei Erinnerungen zu einer verschmelzen.

Geboren sei er in Königshardt. Ich erfahre, dass die Tatsache, eine der sieben Königshardter Familien zu sein, eine verschwörerische Bedeutung hat. Er erzählt von seinen Vorfahren, „Partisanen“, die nach Amerika ausgewandert seien. 1750, als der Krieg in Amerika gewesen sei, seien seine Vorfahren, ursprüngliche Pfälzer, „vom alten Fritz in Plankhütten angesiedelt“ worden. Als ursprünglicher Pfälzer sei er aber in Osterfeld am Volksgarten geboren worden. Übrigens sei ein neues Mahnmal vor der Kapellenstraße enthüllt worden und eine Stimme ruft rein: „Ich komme aus BORBECK!“, und eine andere „Das wissen wir doch!“, „Ja, aber bei Dementen weiß man ja NIE!“

So oft habe ich mich gefragt, ob durch diese eigenwillige erlebte Rede, durch das Aufnehmen von Erzählsträngen unterschiedlicher Kämmung und Farbe, eine besondere Historie eigener Art entsteht?

Ich sammle, was er von dem sowjetischen Offizier erzählt, der für 1983 den 3. WK prophezeit hatte und die Spiegelung des Satellitenraketenangriffs. Dann schreibe ich mir auf: – Russischer Hauptmann – Tochter war über 40 Jahre auf der Guten Hoffnungs Hütte und hat dort Brücken gebaut – Mutter geflüchtet aus Pommern – Volkssturm – bei polnischen Bauern versteckt – polnischer Partisam rausgeholt und erschossen – der Hund von Frau H. hat eine gute Größe, den kann man aus dem Rollstuhl heraus streicheln – 65 Jahre Hochzeit hinter sich – „Der liebe Gott holt die besten zuerst, deshalb habe ich noch etwas Zeit“ – Beschuss durch englische Flugzeuge – „10 Tabletten am Tag verschreibungspflichtig, datt Magensium kann ich so kaufen“ – auf der Kleinstädter Bühne in Sterkrade haben ihre Geschwister mitgespielt – mit 13 in der Tschechei – Schulen geschlossen wegen Bombenangriff – kriegswichtige Industrie – Grafenmühle – Fliegeralarm – freiwillig zum Volkssturm – erst an der Slowakischen Grenze in Prag Koffer schleppen, 13 Jahre alt – 21. April richtung Bayerischer Wald verfrachtet – 8 tote Kinder – in einem Hotel 8 Stunden Dienst, 8 Stunden frei, 8 Stunden Dienst, 8 Stunden frei – zu zweit geschlafen – Tschechen haben uns geweckt – die sich getraut haben, haben BBC gehört – 20. Juli Aufstand – bedingungslose Kapitulation – Industrie sollte demonstriert werden – 900 Kilokalorien.

Es ist der einzige Mann neben 10 Frauen. Er beherrscht das Gespräch. Aber neben seinen Erinnerungen unterhalten sich die Einwürfe über Pflegeroboter besonders skurril und gewissermaßen unterhaltsam: „Ohne die vielen Einwanderer kommen wir in Deutschland überhaupt nicht mehr klar!“

Spiele, Gedächtnis und alte Lieder tanzen, das sei international, sagen sie. Und „niemals vergesslich“.

 

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