Als ich heute den Vortragssaal des Bistro Jahreszeiten betrete – das Café ist von geschlossener Hochzeitsgesellschaft besetzt – zupft Ingrid bereits versonnen an einer Zither. Ein schwarz lackiertes Holzinstrument, mit roten und blauen Streublumen bemalt, das ihr einst Alfred zur Goldenen Hochzeit geschenkt hat. Auf einem Teewagen schiebt Ingrid im Wechsel alter Volkslieder die Notenschablonen unter die etwas verstimmten Saiten, vor Kopf eines gemütlich aus kleinen Tischen zusammengestellten Kreises, und lässt die alten aber sicheren Finger eine Melodie streicheln. Etwa einen Zentimeter über 16 Uhr, an einem Samstag im heute etwas verschlafenen Oberhausen Sterkrade.
Ich erinnere mich, dass Ingrid uns erzählte, dass sie die Zither schon unwiderruflich ihrer Tochter mitgegeben haben wollte. In einem Anfall von selbstvergessenem Pragmatismus, der ältere Menschen manchmal befällt, wenn sie vorsorglich den eigenen Hausstand „mit warmen Händen“ aufzulösen planen. Doch dann habe sie die Tochter gebeten, die Zither noch einmal mitzubringen. Abends und auch manchmal nachts zupfe sie dann den Schneewalzer oder andere Erinnerungen, die sie ein bisschen trösten könnten, wenn sie Alfred vermisst.
Katrin erzählt vom Weihnachtsmarkt eines Bauernhofs in Dinslaken mit schwefelfreien Snacks und einem Heuschober, aus dessen Spitzboden sich Kinder in ein vages Gefühl von Bethlehem hätten stürzen können. Rosemarie berichtet von der Premiere aus dem aktuellen Programm des Theaters Oberhausen, die am 16. Dezember zur Aufführung gebracht wurde und in der Rosemarie neben elf anderen Senioren mitgewirkt habe. Es ist bereits die zweite Inszenierung, die gemeinsam mit Profi-Schauspielern der Oberhausener Bühne und Laien des IV. Lebensalters so stattgefunden habe und die abermals mit 110 Stühlen ausverkauft gewesen sei. Lydia heißt die Dramaturgin, der Intendant sei ein neuer, erzählt uns Rosemarie mit einer Kopfnote Kumpelhaftigkeit und Stolz. Lydia schreibe alle Stücke selbst, so auch So sind ’se, ein Drama, das es einem jungen Schauspieler schon während der Proben schwer abverlangt habe, Rosemarie mit „Du alte Zicke!“ zu beschimpfen. „Da ist der zu mir gekommen und hat gesagt, er kann das nicht, eine alte Frau so anzumachen, aber da habe ich gesagt, ‚mach einfach‘, he he.“
Beim Kuchenessen sind alle irgendwie ein bisschen müde. Satt der Adventskekse, müde der Heizungsluft, überdrüssig der Ständchen. Der Tannenbaum hat seine Lichter vergessen, das Zitherspiel unterbricht sein behagliches Programm für ein Stück Mandarinenkuchen.
Vom Sockenstricken für den Basar ist die Rede, auch von einem Mann, der, im Hospiz die Mittelchen weglassend, noch 10 Jahre gelebt habe. Dann beginnt der entkoffeinierte Kaffee zu wirken und das Plaudern der Damen nimmt wieder Fahrt auf: Wie in Mainz die Säle einst gefüllt gewesen seien, man sich in den Theaterpausen eine Brezel und einen Sekt gekauft habe (so wie heute). Auch Katrin – eine Generation nach den Frauen des Quartiers Sterkrade, die sich hier in der Guten Hoffnung ein Mal im Monat zum Erzählscafé treffen – gehe dann und wann gern mit ihrem Mann in die Oper, zuletzt in Salome. Doch manche Oktaven habe sie schon einmal nicht so gut verkraften können und die Pause genutzt, um auch den von ihr eingeladenen Besuch zu bergen, der fortan nicht mehr beim Umzug habe helfen wollen… Ursula wettert für ein Land des Lächelns, für Operetten und den Figaro, das Programm zu kaufen habe sich früher als Pflicht verstanden. Dass die Schauspieler heute splitternackt und blutüberströmt vor dem Vorhang tanzten könne sie nicht verstehen, „nicht in Berlin und auch nicht in Bochum!“
Zu der Theatergarderobe habe ein Hut gehört, in der Zeit des Ohnesorg Theaters mit Heidi Kabel, Inge Meisel und Henry Vahl. Frauen hätten sich auf von Herren geöffnete Türen verlassen können, erinnert die eine versonnen, während die andere empört einschreitet, dass sie Likör verschmäht und sich Skat und Bier nicht habe versagen lassen und pointiert ungewollt aber stimmig:
„Helma, Gesellschaftsspiele sind so unpraktisch, wenne so dicke Finger has und dir die Püppchen flöten gehen!“
Es entwickelt sich ein leicht säuselndes Vorweihnachtsgeplänkel über Christbaumschmuck in den 40er-Jahren, Bettchen aus der Hälfte einer Walnussschale, die man in der Armut aus dem Silber eines Bonbonpapiers improvisiert habe. Auch die überfährt Erika geschickt mit ihrem 5-Mann-Schlitten: „Den hat mein Vater aus Stahl gebaut, als ehemaliger Fahrzeugbau-Revisor bei Thyssen Krupp, da kann ich heute noch zum Kind werden, wenn der bei Schnee aus dem Schuppen ausgeparkt wird!“
Die Damen tauschen sich noch ein bisschen aus, über raren Eiswein und das Spiel Elfer raus, kündigen an, die Übertragung des Oberstdorfer Skispringens um 17 Uhr nicht verpassen zu wollen.
Da stimmt Ingrid noch einmal Herbei Ihr Gläubigen an, mit leicht überspielten Tempi, während sieben von einst acht Strasssteinchen auf ihrer Bluse sanft zittern. Glitzernd wie kleine Schneeflöckchen. Ein jedes für Alfred.