Greta fehlt heute. „Sie hat eine Jahreskarte für Dortmund, vom Verein, Stadion Stehplatz“, erfahre ich von Rosemarie. Auf die Frage, ob man als Fan nicht in der Kurve stehen müsse, entgegnet die entgeistert: „BVB-Gelb gibbet nicht zum Stehen!“
Wir haben es September, die Wissenschafts-Ressorts überreggionaler Zeitungen titeln mit dem Massensterben diverser Bienenvölker. Ein Marienkäfer habe neulich aufs Ursulas künstlichem Kaktus gesessen. Die Stacheln, überlegen wir gemeinsam, haben ihm angesichts seiner geringen Körpergröße, der Leichtigkeit des Käferleibs im Verhältnis zum Chitinpänzerchen, nichts anhaben können. Er plumpste aufs Fensterbrett, wo er dann, wie Ursula kommentiert, aus seinem Spätsommerschlaf noch einmal erwachte. Eine Fleischwurst essende Wespe hatte Ingrid neulich beim Frühstück Gesellschaft geleistet. Da saßen sie beide so in der kleinen Küche eines der Appartements der Gute Hoffnung – leben, Ursula und der Marienkäfer, Ingrid mit ihrer Wespe.
Wir debattieren noch ein bisschen über die Mutation von Kleinstlebewesen, über die Entomophagie als neuer Ernährungshype gegen Fleischkonsum und Klimaerwärmung und kommen auf die Obsternte in diesem Jahr zu sprechen: „Wo nicht befruchtet wird, gibt es nichts zu essen.“
Ursula erzählt von dem kleinen Gartenquadrat ihres angemieteten Alterswohnsitzes, auf dem ein Apfelbaum gerade so eben Platz habe. Empört bilanziert sie in der ihr so typischen englischen Schnippigkeit, die wir an ihr so lieben: „Und ich habe keine einzige Frucht gekostet! Sonntag hingen sie noch an den Ästen, Montag waren alle verschwunden!“ Auch Walnussklauer hätte man auf dem Gelände der Guten Hoffnung zu beklagen. Da gibt es ja diese neue Plattform, „Mundraum oder Mundraub oder so ähnlich“, da könne man ausspähen, wo in der Umgebung Obstbäume stehen, die man in gut gemeinter Marmeladenabsicht bepflücken kann.
Katrin ist heute nicht da, wir müssen alleine das Bistro des Café Jahreszeiten bewachen. Die Servicekraft will uns noch mehr Licht dimmen, da sagt Irmgart in dem gemütlichen Humor, in dem es sich die Senioren so schön bequem gemacht haben: „Du kannst das Licht ausmachen, weil wir strahlen ganz von selbst.“
Auf das Thema Bundestagswahlen lassen sich die Frauen nicht bewegen. Eine Entscheidung wollten sie treffen, fasst eine von ihnen kurz zusammen und das finde ich irgendwie optimistisch. Anstelle eines halbherzigen Polit-Talks zweiter Ordnung werden mir lieber ein paar Bilder geschenkt: Zum Beispiel, dass Helma heute immer noch gern in ganze Vollmilchschokoladentafeln reinbeiße und dass Adelheid ihre Jacke hartnäckig ‚Anorak’ nenne. Für mediterranen Tanz aus Schmachtendorf haben sämtliche Frauen in der Runde nichts übrig, besonders Rosemarie ginge da lieber in Henks Muckibude gleich am Sterkrader Tor, um fit zu bleiben und um die innere Einstellungen ein bisschen durcheinander zu bringen.
Bei Henk mache Rosemarie neuerdings Zumba. So ein Südafrikaner gebe den Kurs und der könne auch toll einrenken. Ehrfürchtig sei er ihr vorgekommen, als er von ihrem hohem Alter erfahren und vernommen hatte, dass Rosemarie Mutter von fünf Töchtern sei. Das nächste Mal habe er ihr dann ein Armband mitgebracht: „Jede Perle steht für etwas anderes, Gesundheit, Glück und all so`n Krempel“, erzählt uns Rosemarie stolz.
Gelb, Rot und mit schwarz-weißen in Ton eingebackenen Tuschestrichen klingeln da die Perlen zum Schlagen der Kaffeelöffel gegen Tassenseitenwände, spektakulär leise,
im heutigen Erzählcafé des Seniorenzentrums Gute Hoffnung – leben.
Gabi will gerade in ihre Donauwelle beißen, der Kaffee dampft in seiner obligatorischen Halbstärke schwach aus der 0,3 l Tasse, da entfährt Ursula plötzlich, dass die Männer der „Vopos“ weniger schlimm gewesen seien als die Frauen. Wie manchmal urplötzlich ein Gedanke kommt, so erzählt uns nun auch Ursula, heute Sterkraderin, lange Wahl-Engländerin und davor Reisende zwischen Ost- und Westdeutschland, vom Mindestumtausch in das Aluminiumgeld der Deutschen Demokratischen Republik, von den Stichzeiten, zu denen man in der DDR sein Geld pro Tag bekommen habe und von einem Schnittmuster aus dem Papier einer verdächtigen Tageszeitung, das ihr ein Grenzbeamter aus der Hand gerissen habe, als sie mal wieder ihre Eltern im Osten besuchen wolle. Auch Kinder haben eine Autobahngebühr zahlen müssen, erfahre ich weiter von Erika. In Erinnerung seien der vor allem die Nagelbänder gewesen, mit denen PKW, wenn nötig, an der Durchfahrt in den anderen Teil Deutschlands gehindert worden seien.
„Hast Du Deinem Zumbalehrer eigentlich auch Socken gestrickt?“, fragt Rosemarie wieder zurück in die Gegenwart, „BVB-Socken“, sagt da Ingrid, „obwohl`e datt Gelb schwer krichs.“
Wir plaudern uns noch ein wenig über die 4000 Kilowatt Strom warm, die Erika über den RWE umsonst beziehe. Als ehemalige Mitarbeiterin stünden die ihr zu, denn „an der Quelle sitzt der Knecht.“ Rosemarie schwört auf ihren Ofen mit den aus „Lehm gebrannten Handformfliesen aus Königshardt“, die, sind sie erst einmal durchgeheizt, alle Glieder schön warm hielten.
Ihre und die Fühler der letzten Marienkäfer aus dem Jahr 2017, die, satt von mundgeraubtem Fallobst, längst keinen kalten Krieg mehr gewöhnt sind.