Wenn die Lebenshilfe Tomaten schmort und Raben randalieren…

Doris holt eine Tüte aus einem Korb hervor. In der Tüte ist noch eine. In dieser eine weitere und darin: Poesiealben! Ein in Frakturschrift getuschter Spruch, so über die grundsätzliche Klugheit im Leben, auf marmoriertem Hartkarton gezogen die Linien und zu Glanzbildern gesellt. Ganz alte aus den 20er-Jahren und welche aus Doris‘ Kindheit, den 50er-Jahren in Duisburg-Bruckhausen.

Es war ein dürrer Sommer. Die Gärten sind in der Guten Hoffnung eingegangen, berichten die Frauen, während Katrin Äpfel poliert. Aus eigener Ernte, sagt sie, einen ganzen Korb hat sie uns mitgebracht. Und der Hahn habe dieses Jahr dran glauben müssen, Eier gebe es keine mehr. Der sei einfach zu laut und störrisch gewesen, die Nachbarn haben das Tier nach Wochen des Schlafentzugs nicht mehr länger in der Siedlung geduldet.

„Bei der Engländerin waren dieses Jahr keine Äpfel dran“, schickt Ingrid sanft nach. Ursula aus England, deren an den Fallbäumen zu Ostdeutschland konfiszierte Schnittmuster aus westdeutschem Tageblatt wir noch frisch gedruckt vor Augen haben, ist kürzlich gestorben. Ihr Baum trug keine Äpfel deswegen.

Bei Katrins Äpfeln handle es sich um eine alte Sorte, aus dem Garten eines Zechenhauses von 1950. Die Früchte seien nicht so lagerungsfähig, informiert uns die Bistroleitung, „wurmstichig, aber ’n Schneewittchen, also von einer Seite rot, von der anderen grün“, „und mit einem Blatt so apart“, kommt von Elisabeth.

Heute hat sich ein Paar aus Dinslaken zum monatlichen Erzählcafé Streuselkranz dazugesetzt. Hermann und Luise wollten durch die Sterkrader Innenstadt flanieren und auf dem Weg im Café Bistro Jahreszeiten Milchschaum mit Kaffee drunter schlürfen. Aber unsere kleine Gesellschaft, in sechs Jahren gewachsen und aus einem inzwischen harten Kern aus 12 Frauen des Quartiers und einem hartnäckigen Mann, nimmt sie gerne auf. Das Apfelthema wir weitergereicht, vom Appel zu „Äppeln“ und der Anzug aus Dinslaken weiß zu erzählen von Streuobstwiesen, wie er als Kind Apfelmostereien mit Schubkarren beliefert habe. Doris wirft ein: „Seit mein Mann tot ist, spritze ich die Pflaumen immer, hah! Kein Wurm mehr drin!“

Luise sucht hinter tiefen Stirnfalten nach einem Pendant zu Schmoräpfeln, von denen Erika nun in ihrer Kindheit schwelgt und brät mit dem Munde schon die Zwiebel dazu aus: „Zu Hallimarsch passen die gut, 15 Minuten glasig dünsten, fertig!“ Der Schirmpilz sei ein minderwertiges Exemplar im Moos, erzählt sie, den man im Herbst in den Wäldern um Buchholtwelmen noch gut finden könne, „und der schmeckt so knackig!“

Ich stelle mir meine Kinder oder die Schüler*innen der Mittelstufe vor, wie sie sich mit ihren Smartwatches durch feuchtes Laub navigieren. Wenn man Pilzesuchen mit Geocaching verbände, könnte man diese Tradition vielleicht erhalten. Solange das Klima im Herbst mitspielt…

  Steinpilze sind selten geworden, weiß Ellen, „das Köstlichste überhaupt sind Maronen“, schickt Herbert nach. Birkenpilze muss man zwischen 11 und 12 Uhr schneiden, weiß ich jetzt, denn sie schießen „wie Pilze“ innerhalb von einer Stunde fünf bis sechs Zentimeter aus dem Humus. Sich einmal daneben legen und dem Wachsen lauschen…

Ich zitiere, aus einem alten, gebundenen Geschenkbüchlein eines Wedauer Trödelmarktes und mir ist nicht ganz klar, wer sich so etwas geschenkt hat:

„Der Schönheit der Pilze ist man sich nicht allgemein bewusst. Zahllose Menschen erfreuen sich in Feld und Wald am Anblick der Blumen, aus denen das heitere Licht des Himmels widerstrahlt. Verhältnismäßig nur wenigen aber ist der Blick geweckt für den Reiz und die abseitige Pracht der Pilze, deren Form- und Farbenspiel ebensowohl wie das Blumenfeuer ein bezaubernder Ausdruck der Pflanzenheit ist. Der Pilz wird jedoch dem, der ihn nur kochen und essen will, als Ausdrucksform der Natur nicht immer leicht verständlich sein.“

Das kleine Pilzbuch – In vielen Farben. Einheimische Pilze nach der Natur gezeichnet von Willi Harwerth. Text von Friedrich Schnack. Leipzig (Keine Jahresangabe.)

„Ich habe mir früher Seidenstrümpfe selbst genäht“, entfährt es aus einer Ecke, und die anderen schauen ungläubig. Das Paar aus Dinslaken macht sich zum Gehen bereit, während uns eine zweite Ladung Streuselecken gereicht werden.

Ich nutze das Stichwort und gebe ein paar Zeitzeugen herum, darunter eine alte Blechdose der Marke „Oldenkott“, darin alte Keramikperlen in orange, blau, weiß.

Der Herr aus Dinslaken, schon den Samstagsmantel über dem Arm, höflich in den Umgangsformen, weiß gleich zu zitieren: „I gon ja sowieso kaputt, drum roch ik Oldenkott.“ (Rees Oldenkott)

Erika erzählt, dass sie gern mal wieder drehen, schrauben und schweißen würde. Ich frage, was eigentlich die Selbsthelferwerkstatt mache, eine Initiative, die aus der Stadtteilsarbeit in Oberhausen Sterkrade, des Teams für Chancengleichheit, hervorgegangen ist. Hier treffen sich Rentner*innen, neu Zugewanderte und auch Jugendliche, um an Toastern, Fernsehern und Laptops zu schrauben. Die Damen sind nicht aktuell im Bilde, erzählen mir aber von der ZAKK Lebenshilfe und davon, dass die neuen Mitarbeiter*innen die Gärten mit einem Schlauch gössen und die Raben hinter ihnen den Rasen wieder umwühlten.

Der Nutzgarten der Guten Hoffnung to go laufe nach rund fünf Jahren immer gut. Den Tauben könne man zwar „den Kopp abdrehen“, aber Kräuter geerntet würden fleißig auch von Menschen und der gefürchtete Vandalismus ist ausgeblieben.

Dann erzählt Katrin stolz, dass sich das Café Bistro Jahreszeiten nun offiziell als Inklusionsbetrieb habe umschulen lassen. Hier darf jede*r auf seine Weise die Tomaten schmoren, solange er freundlich ist und Lust auf Essen hat.

Die neue Grill-Aktion jeden Donnerstag sage Erika sehr zu, raunt sie Katrin zu, und Lilly entgegnet in liebevoller Schroffigkeit: „Du ißt die Kartoffeln erst, wenn ’se durch datt Schwein gegangen sind, haha“, und sammelt sich die Krümel mit dem Fingern vom Tisch in den Mund. Dabei grinst sie. Breit.

 

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