Lila Haare und Mahjongspielen

Heute ist eines unserer Erzählcafés ‚Streuselkranz‘, in denen es sachte plätschert. Gerade diese Nachmittag – inzwischen statt samstags immer freitags – sind wie Fotos unaufgeräumter Zimmer. Niemand schießt sie bewusst, aber es sind die eigentlich bedeutsamen: Momente, Gewohnheiten, Stile, Lebensweisen, Routinen und Entscheidungen, über die sich neue legen.

Ellen startet mit einem Blindgänger. Er hat ganz Ronsdorf ausgebombt. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich kaum noch zu unterscheiden motiviert bin: Handelt es sich um eine der vielen Explosionen der Vergangenheit, wie sie über das kriegsrelevante Industriegebiet entlang der Ruhr niedergingen und von denen die Senior*innen so oft erzählen? Oder hat es mal wieder eine aktuelle Entschärfung gegeben, die ganze Stadtteile im Ballungsgebiet evakuiert hat?

Doris erzählt, sie habe vom Erzählen geträumt. Von einem so lebhaften Erzählen, einem Erzählen zweiter Ordnung gewissermaßen. Ich verpasse den Augenblick, sie zurückzufragen, wer oder was sie denn so gefesselt habe, da ruft Erika in der ihr so liebenswerten Art zu Lilly: „et gehört sich aber nich, beim Kaffè (mit kurzem è) Kaugummi zu kauen!“ Lilly aber erwidert langsam, leise und sehr gedehnt: „Ich habe noch KEIN GeBISS!“ und Erika staunt: „Nicht zu fassen, und datt Mädel wird 94!“

Vom Markt in Oberhausen Sterkrade erzählen sich die Frauen heute, vom Enten füttern im Park, das man nicht solle und dürfe und auch nicht wollen könne, wenn man bedenke, wie fett die Tiere würden. Sie berichten davon, dass es so, wie in anderen Ländern, verboten werden solle, in nächtlichen Angst-Räumen Alkohol zu trinken. Das Pfandglas könnte so schnell gar nicht von den Flaschensammler*innen aufgelesen werden.

In einer Ecke raunt eine Frau zu einer anderen, wie lange es her sei, dass sie zum letzten Mal Sex hatte. Erst bin ich erstaunt, sind die Frauen sonst nicht so offenherzig, geht es nicht gerade um die Intimität von Krankheitssymptomen. Ich denke überhaupt auch zum ersten Mal darüber nach, dass Liebe und Sexualität in hohem Alter ein Tabu ist!? Und ich denke darüber nach: Entwickelt sich „der Sex“ vielleicht irgendwann zu diesem einen, ein ganzes Lebens umfassenden Sex?

Als Retrospektive erzählt meint er dann vielleicht nicht mehr die letzte Gelegenheit, sondern ist eine Art totum pro parte für all die Lebenszärtlichkeit.

Die Frisuren der Frauen fallen mir heute irgendwie besonders auf. Vielleicht ist es das letzte Herbstlicht, das die schwarz und burgunder getönten Igelkurzhaarfrisuren besonders stachelig macht oder das den weißen Dauerwellen in ihrem zarten Blauflieder einen gut gemeinten Schleier verpasst.

Was in der Guten Hoffnung mit ihrem Innenhof, den urbänen Gärten mit frischen Kräutern in Hochbeeten, aus Holzpaletten gebaut, immer gut geht, sind Tiere. Entweder haben sie sich in den Johannisbeernetzen verheddert oder sind als Elstern „besonders frech“. Verdrecken als Tauben die Balkone oder trinken als Spatzen aus Pfützen. Nur von Senior*innen so gut beobachtet, streiten sie sich um das Weibchen oder picken die Würmer aus dem Moos, fliegen gegen Scheiben oder streichen um die Ecke, die eigentlich den Hunden gehört. Um Jungvögel tut es den Frauen leid. Ratten werden nach wie vor nicht geduldet. „Wenn du die in einer Lebensfalle fängst, musste se am anderen Ende der Stadt aussetzen: Zum blöden Nachbarn is nicht, die kommen wieder!“

Während ihr Enkel Schnecken in seinem Eimerchen gesammelt habe, um sie auf jungem Kopfsalat auszusetzen und zu beobachten, habe eine Krähe sich an der Bratwurst bedient. Ingrid ist immer noch empört ob dieser Distanzlosigkeit der urbanen Vögel.

Doris erinnert sich daran, einmal das Funkemariechen gewesen zu sein und dass man „Ich geh in`n Konsum“ und „Bringsé mich watt mit?“ sagte, wenn man das Geld, das man bei Krupp verdiente, sogleich auch im konzerneigenen Lebensmittelgeschäft wieder ausgab. Die Lehrer in Wupptertal wie Ransdorf wie Remscheid hättten allesamt ebenso wenig Hochdeutsch gekonnt wie die Schüler*innen. Von ihr, Doris, habe man das aber verlangt, die sie wegen fehlender Deutschkenntnisse nicht zu ihrer Oma durfte.

Auch diese Erfahrung mache ich immer wieder. Mit gespitzem Bleistift oder Aufnahme-App, tippender Weise oder auch aus der Erinnerung: Die Geschichten der Senior*innen konhärent zu erzählen, ist gar nicht so einfach. Zu selbstverständlich ist ihnen, was für mich Kenntnisse in deutscher Geschichte und Regionalkunde sind, die ihre gelebte Wirklichkeit war. Nach den Antworten zu fragen fehlt mir die Erkenntnisidee. Ich weiß, dass Doris aus Ostpreußen gekommen war und platt sprach, aber den genauen Weg ihrer Umzüge verstehe ich auch nach fünffachem Fragen nicht. Und trotzdem habe ich das Gefühl, sie mehr und mehr zu verstehen.

Schillers Glocke habe sie immer abschreiben müssen, erzählt Erika und von 162 Viren, die ihr der Virusscanner angezeigt habe. Mahjong zocke sie und Mohrhuhnschießen, alles auf ihrem Smartphone, seit der Urlaub mit Schwimmingpool abgeblasen worden war.

Der Geburtstagskalender, der das Alter der Bewohner*innen in der Guten Hoffnung verzeichnet, „gehört abgeschafft“, empört sich Iris. „Aber der verrät doch nur, watt man schon geschafft hat!“, staunt Helene, während Erika noch einmal den Kefirpilz ins Feld führt, den sie allabendlich mit Zucker füttere: „Mit Dickmilch geht das viel besser als mit normaler Milch“. Er sei in jedem Fall gut für den Darm. Wie sie einmal den Kochkäse mit Vanillepudding verwechselte, erinnert sich Helga immer noch, angewidert sei sie gewesen von der krassen Irritation aus dem Süßen und Salzigen, käsig statt vannilig, da weist Erika wie selbst die Regie an: „Nein, ich muss jetzt weiter machen“ (mit dem einen der vielen Erzählstränge) und schwärmt von ihrem Bruder, der Erika regelmäßig aktuelle Virenscanner einspeise. Doch darüber landen wir schließlich bei Elektrosesseln, Schrankwand ‚Ella‘ und der Relaxliege nach dem E-Bike-fahren.

„Ein ganz schönes Kuddelmuddel für dich zum Aufschreiben, was? Aber immer noch besser als die Für Sie! Hahaha.“

Irgendwann Ende 2019. Im Café Bistro Jahreszeiten, Oberhausen Sterkrade. So ungefähr vier Monate vor der Corona-Pandemie.

 

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