Frau mit Ohrclips holt Geld ab, damit Mann es nicht verspielt

Saftig und fein püriert. Die satte Schicht aus säuerlich glänzenden Äpfeln. Irene fährt sie mit den Augen in der Quadratur eines Blechkuchenstücks ab. Sie erzählt währenddessen, dass die Lätta gerade bei Netto im Angebot sei und sie sagt so Sätze wie: „Die Pralinen lasse ich gerade weg.“ Katrin „faste“ noch bis Gründonnerstag „Schimpfwörter“, denn schließlich könne man sich nur über individuellen Verzicht auf sich besinnen und seiner selbst bewusst werden.

In der Neuapostolischen Kirche kenne man die Imitatio Jesu einer 40-tägigen Fastenzeit nicht, die mit Aschermittwoch beginnt. „Und die Türken?“, fragt Iris. „Na, die machen doch Ramadan!“.

Heute sind wir nur fünf Frauen, die sich zum monatlichen Erzählcafé an der Guten Hoffnung in Oberhausen Sterkrade treffen. Der Samstag hängt irgendwie so zwischen den Jahreszeiten. Irene erzählt in einer anmutigen Ruhe davon, dass ihr Sprudellieferant das Personal gewechselt habe und sie auf einem sehr komplizierten Weg – auf dem der Zuhörer die Türklingel eines 20-Parteienhauses, zwei Parkplätze und einen Generalschlüssel hinter sich lassen muss – um den Lastentransport von zehn Kästen Mineralwasser betrogen worden sei. Ihre Erzählung steigt dabei selbst sanft und irgendwie wohltuend zwischen dem Löffelgeklimper kleiner Kaffeetässchen auf.

Von der überteuerten Dienstleistungsgesellschaft für alleinstehende Senioren mit Kohlensäurelust und der exzellenten Trinkwasserqualität aus Königshardt kommen wir schnell auf eine Frau aus einem dieser öffentlich rechtlichen Fernsehfilmen zu sprechen. Sie sei ihren erwachsenen Kindern mehr und mehr durch Tüddeligkeiten aufgefallen, bis die insgesamt zerstrittene Familie über das Vergessen der Alten wieder zusammengekommen sei.

Die Demenz, auf die sich die Gute Hoffnung als Kompetenzzentrum spezialisiert hat, kann also auch Wunden heilen, denke ich. Denn Vergessen verhindert es, nachtragend zu sein und erzwingt es, die Dinge neu zu interpretieren.

Ich sehe auf die Schale in der Mitte des Tisches. Sie sieht aus wie die Gussform für ein halbgepelltes Ei, von dem bereitwillig goldener Lack blättert. In ihm kämpft eine Schwimmkerze ums Überlegen, während Ellen vom Volkspark erzählt und von Annelore aus Haus drei, die dort immer die Tiere füttern gehe. Der Park sei parallel zur Eisenbahnstrecke Wesel gelegen, schräg gegenüber eines Minigolfplatzes, der im Sommer immer noch gut besucht sei. Mattler Busch in Duisburg Walsum solle bis 2020 saniert, die berühmten Salinen abrissen werden. Mit dem Fahrrad sei Ellen neulich bis nach Dinslaken Kirchhellen gefahren.

„Ich bin am 2. Mai 2011 in die Gute Hoffnung gezogen“, erinnert sich Katharina mit fester Stimme. Ihr Sohn sei in der ersten Nacht bei ihr geblieben. Und er muss eine Menge Einfühlungsvermögen und Spitzbübigkeit mitgebracht haben, wenn Katharina der Gedanke heute noch zum Lachen bringt: „Wenn der das kann, kann ich das auch!“

Ellen pflicht sehr überzeugend bei, in höherem Alter müsse man sein Haus verkaufen und das Auto abgeben. „Wir haben in der Ausschüttung dieses Berges gewohnt, Kirchhellener Straße Richtung Grafenmühle, am Kleekamp“, erzählt sie mit einem Hauch Versonnenheit, aber überhaupt nicht sentimental. Ellen spricht ein akurates Deutsch, dessen Lautvollendung zu beschreiben ‚akurat‘ viel zu akurat klinge.

So geht es mir mit vielen der Frauen, die hier wohnen oder gern das Erzählcafé Streuselkranz besuchen. Von vielen ihrer höre ich mich allein vom Zuhören irgendwie so angenehm gestattet und innerlich bestätigt.

Ellen ist Sterkrade verwachsen, kennt den Stadtteil wie ihre Handtasche, da sei ihr der Umzug in ein betreuungsnahes Wohnen gleich nebenan nicht schwer gefallen. Katharina hat sich auch eingelebt und strickt bei nachlassender Sehkraft Mützchen für die Neugeborenenstation des Johanniter Krankenhauses: „Socken mit Verse und Käppchen kriege ich nicht hin“, entschuldigt sie sich. „Hörst du meine Nähmaschine abends rappeln?“, will darauf gleich Ellen von ihr wissen. Und allein im Zuhören stellt sich so eine Gemütlichkeit ein, wie sie nur in ‚Schullandheimen‘ bei glückstriefend geloster Bettenbelegung möglich sein kann. Hosen kürze sie für Lilly, und dabei sei sie gar keine gelernte Näherin. „Och, ich komme aus einer Familie der Näher und Raumausstatter, aber ich selbst habe davon nichts mitgekriegt,“ winkt Katrin vertraut jede Bescheidenheit ab, die selbst Bewohner der Guten Hoffnung betreut und das Bistro als Leitungsassistenz zu einem beliebten Anlaufpunkt macht.

Bei Textilien der 70er-Jahre bleiben wir noch eine Weile, die Frauen tauschen sich über Moden und Schnittmuster aus. Bilder entstehen von Hauswirtschafterinnen, die den ganzen Tag mit Kittelschürze über den Jerseyhosen das super kommode Wort „kleidsam“ gleich miterfunden haben mussten: „Da konnte man die Nylongarderobe so praktisch am Körper glattbügeln!“ ‚Ohrenclipse‘ hätten zum Outfit dazugehört, berichtet augenzwinkernd Katrin, selbst der nachfolgenden Generation angehörend. Eine Schrilligkeit muss von diesen Outfits ausgegangen sei, die sich bis heute fast trotzig gegen die Aufgaben des Haushaltes zu brechen scheinen. Und bei aller Unterdrückung wurde viel gestärkt: Häkeldecken, Hemdkrägen (bis die Hälse rot gescheuert waren), sogenannte „Paradekissen“, Manschetten – und die Dauerwellen mit Haarspray.

Kontrastreich dagegen mutet Ellens Erzählung vom sogenannten ‚Ahlen‘ an, dem Reinigen der nicht wassergespülten Toiletten, auch ‚Jauchen‘ genannt. Noch schroffer dagegen Katrins ausgesprochener Wunsch, mit ihrer Familie einen Wald im Siegerland zu bereisen, in dem man über’s Wochenende ganz minimalistisch das Leben in aller Einfachheit noch einmal imitieren und genießen dürfe: „Um Kaffee zu trinken, musste ich erst einmal Holz hacken“, stellt Katrin begeistert mit passender Gestik nach. Strom gebe es dort natürlich nicht, auch kein oder wenig Wasser zum Zähneputzen.

Im Wald hätte man zu ihrer Zeit ja noch „schwarz erlegt“, fällt den Damen dazu raunend-flüsternd ein. So sei es gewesen, dass einige Hauptverdiener mit ausgelaufener Stelle den zuständigen Förster systematisch „unter Strom“ setzten, das heißt, mit hartem Schnaps abfüllten, damit sie, während der nun „den Doppelkopf“ spielte, in aller Seelenruhe das heimische Wild schießen und gleich küchenfertig machen konnten. „Die Frauen räumten dann schnell das Geld aus dem Verkauf vom Konto, damit die Männer es nicht wieder in der Spielhölle verzockten“, lacht eine der Frauen.

Und ich mit mir. Erst verhalten, dann hörbar, mit Ohrenclips links und rechts, gestärktem Kragen in der Mitte und dem festen Vorhaben im Herzen, Lätta noch schnell zum Vorzugspreis zu erstehen, bevor ich mir ein Buchweizenkotelett im Volkspark schieße und von beiden Seiten scharf anbrate.

 

 

 

 

 

 

 

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