„Tschüss Kolja, tschüss Charlotte“, ruft Katrin durch die Tür, da gehen die beiden, er, der manchmal samstags hinterm Tresen hilft und sie, seine lose Freundin, die auch manchmal samstags hinterm Tresen hilft, durch die Tür des ‚Café Jahreszeiten‘ in ein nasskaltes Oberhausen Sterkrade – Hinterausgang. Er, wie er sich so geschmeidig mit Lederriemen-Rucksack und fairem Ansinnen im Gehen das Miniboard auf die Lende legt. Sie, wie sie so ihre ‚Round and Thin‘ verlangsamt den Nasenrücken hochschiebt, damit sie eine Sicht hat, die noch klarer ist. Beide verlassen sie ihren Nebenjob Richtung Samstagabend, leichtes Lächeln auf den Lippen. So leicht, dass es ist, als würde uns die schwere Automatiktür hinter ihnen mit zitterndem Sicherheitsglas in das heutige Erzählcafé einbuchten, KaWUMM. 13 Seniorinnen so zwischen 60 und 90 Jahren. Ausgenommen Katrin und mich, irgendwo dazwischen, die wir unser Erzählcafé heute zum 17. Mal geben, ein Projekt der Landesinitiative für demenzfreundliche Quartiersarbeit.
Die beiden Zwanzigjährigen schweben weg. Kolja und Charlotte, eine Generation, die Mitte der 90er-Jahre auf die Welt kam, zehn Jahre später als ich. Wir also, die wir, wenn wir selbst mal die 80 erreicht haben, vielleicht noch 30 Lebensjahre vor uns haben werden, ( ) ← Platz, mal kurz darüber nachzudenken.
Wir werden unser eigenes Älterwerden sicher anders erlebt haben als Doris oder Inge. Dann, wenn der Jungenname ‚Manfred‘ gerade eben schon wieder nicht mehr en vogue geworden sein wird. Wir werden auf andere Weise für uns sorgen, hoffentlich, wenn ‚Pflegekasse‘, ‚Rente‘ und ‚Krankenversicherung‘ etwas anderes bedeuten, als jetzt schon nicht mehr. –
Die Frauen, Teilnehmerinnen unseres ‚Streuselkranz‘, blicken den beiden Zukunftsbotschaftern versonnen hinterher. Eine von ihnen, Erika, kommt in dem Nachblicken ihrer auf syrische Flüchtlingsfrauen und ihre Kinder zu sprechen: „Die haben ihr Heimatland nicht freiwillig verlassen.“ – Erika sagt das so in einem müde abwiegelnden Ton interessierter Gelassenheit. Nur die Aussicht auf Diätkuchen kann den zulassen, vor allem dann, wenn der Geschmackssinn ‚süß‘ einzig und intensiv funktioniert. Gegen Sätze wie den von Erika kann man nichts haben. Man hört sie oft bei Menschen, die sich in den 40er-Jahren in einer Bauernhofscheune mit 20 Leuten Kartoffelschalen teilen mussten. Die sind komfortabel in jeglicher Meinungsbildung, so, dass jedes Thema an sich irrelevant zu werden scheint.
In gleichem Alter wie Kolja und Charlotte ist Katrins Tochter. Sie wolle irgendein „Entwicklungsland“ bereisen, erzählt Katrin, Argentinien, Brasilien oder Indien. Aber sicher nicht in einer westeuropäisch geprägten Deutungshoheit über Lebensstandards, zwinkert sie zwischen Details wie ‚Selbsthilfehilfe‘ und „Kleinkrediten“. Die von Katrins Tochter anvisierten Initiativen wollen so unterstützen, dass Menschen autark jenen gegenüber werden, die jene Unterscheidung zwischen autark ↔ nicht-autark überhaupt treffen. Bettina zieht die Augenbrauen hoch.
Bettina ist zum ersten Mal dabei, wenn sich Sterkrader Frauen und Männer ihre Lebensgeschichten zwischen 1940 und 2017 erzählen. Etwas vom scheinbar platten Alltagsland oder den Spitzen gemachter Erfahrung. Bettina verlor ihre Zähne wegen des Pfuschs eines alkoholisierten Kieferorthopäden, erfahren wir, und sie bleibt nur kurz auf ein Stück TiramiSu mit weichem S. Erika erzählt von ihrem Urlaub auf Fuerteventura und von einem Mann, der mit einer neongelben Boje jeden Tag seine anderthalb Kilometer ins grüngraue Meer zog. Vielleicht suchte er auf seine Weise ‚seiner Entwicklung zu helfen‘ und Bedeutungen für sich zu schaffen. So, wie die Sylvesterschwimmer, die an Neujahr wieder ins eiskalte Ijsselmeer gesprungen seien, wie Katrin berichtet. Mit dem ersten Januar von 2017 habe Ingrids philippinische Freundin ihren Zopf für ein Kinderdorf in Rumänien beim Frisör gelassen, erzählt uns die zwischen zwei Löffeln Sahne. Und Katrins Haare, so ergänzt jene, waren für eine (so merkwürdig menschlich-tote) Spende noch nicht lang genug. Ihren braunen Zopf, leicht gewellt, ließ sie dennoch mitsamt der guten Vorsätze noch vom letzten Jahr erst kürzlich auf eine raspelkurze Aussage schrumpfen. Katrins Sohn habe dann erst einmal „riechen“ müsse, ob seine Mutter noch seine Mutter sei.
Unser generationsübergreifendes Treffen mutet heute wie eine Erzählung Alice Munros an, so durcheinander und scheinbar ohne Zusammenhang wie der Kirschstreusel, der vom Gaumen bis zum Rachenzäpfchen weit verteilt klebt. Wo man durch einzelne Geschichten laufen kann wie durch Räume, die lose miteinander verbunden sind. Mit Pausen. Zum Verweilen. – …und dass einem zwischendrin so die größeren Fragen aufkommen.
Die Menschen, die sich hier treffen, lebten vorrangig in einer Zeit, in der Linearität noch realistische war, meistens in der Unterscheidung zwischen ‚Früher und Heute‘, wobei das richtige Gestern manchmal weg geschoben wird und vor allem die Verklärungen bei Bewusstsein bleiben können.
Entwicklungsländer zu bereisen war 1950 jedenfalls keine Option. Das sagt Ingrid. Und Ingrid sagt auch, dass sie Angst vor Vögeln habe, ja, eine richtige Phobie, die sie selbst an Spaziergängen durch den deutschen Mischwald hindere. Die Phobie habe sie, seit sie während der letzten Kriegsjahre nach Tiefenbach zur Kinderlandverschickung geriet. Da habe ein ausgestopfter Auerhahn über dem Türsims zu ihrer kleinen Herberge für Albträume gesorgt.
Ich stelle mir diese Schimäre zwischen dem lebendigen Gefieder eines Fasanentiers und der Starre des toten Hohlraums in seinem Innern vor und kann Ingrid gut verstehen.
Damals war sie diejenige gewesen, die flüchtete, auf viele verschiedenen Weisen, worüber sie Kolja, Charlotta und Katrins Tochter gut erzählen könnte.
Was unterscheidet selbstlose Hilfe von ‚narzisstischen Altruismus‘? Ein Thema, das relevant werden wird, wenn Generationsverträge nach dem demografischen Wandel, wenn er fertig ist, nicht mehr greifen. Wo irgendwie relative ‚Missstände‘ auf Privilegien treffen könnten, sodass beide etwas davon hätten. Ingrid erzählt von ihrer Enkelin, die nach ihrem Studium zur Violinistin nun eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen habe, um von etwas leben zu können. In dem Musikkorps der Polizei hoffe sie, nun weiter geigen zu können. Und die Freundin der Enkelin habe ein Jahr in Guatemala verbracht, Geschmack an Teigfladen gefunden und neben der Arbeit mit den Kindern, mit denen sie dort musizierte, zu sich selbst gefunden. Wird ihr Aufenthalt etwas für die Guatemaltekinnen geändert haben und wollen sie das überhaupt?
Jedenfalls wolle Katrins Tochter nach irgendwo hin, „wo man lange fliegen muss“, stellt Ursula fest. Auf Flügen könnten vor allem noch kleine Kinder ziemlich ungehalten werden, erzählt sie aus Erfahrung, die sie selbst von Boeing zu Propellermaschine andere Probleme mit ihren Ohren habe und die Säuglinge gleich vorsorglich unter ihre Fittiche nehmen müsse: „Wir wissen ja nicht, wie es sich für sie anfühlt, wenn sie den Luftdruck ausgleichen!“. So schließt Ursula in ihrem sanft englischen Akzent den spontanen Einwurf gleich wieder. Und sie könnte die Frage der unterschiedlichen Wahrnehmung auch für so ziemlich alle anderen Themen gemeint haben und hätte damit immer Recht.
Eine Weile tauschen wir uns noch ein bisschen aus: über Selbstversorger, kroatische Korruption und Tierphobien, über das Einfühlungsvermögen in die Wahrnehmung von Menschen, wenn sie noch klein sind und dann, wenn sie schon alt sind. Dann beraten mich die Frauen, wie ich eine 8-stündige Zugfahrt mit einem 1- und 3-Jährigen ins Allgäu gut überstehen könne: mit Puzzlen, Kneten und Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst-Spielen, mit Stempeln, Malen und Wimmelbuchanschauen, mit Luftballons, Saftpäckchen (mit möglichst wenig Zucker) und Nüssen, die schön knacken und mit der ständigen Fragen: „Wo sind alle roten Sachen?“ Mein Mann sei dann „Stohwitwer“, werde ich, die mir mit diesem Begriff unbehaglich ist, wacker einzustimmen gefordert. „Aber die Männer schaukeln ihr Ding mit den Kindern immer anders“, sagt Ursula, „die haben ihre eigenen Regeln und dann muss man sie auch lassen.“
Als die Frau des Nachbarn einmal verreist sei, erzählt Ursula, habe der sich die Nachbarin der Nachbarin zur Hilfe geholt. Für das Bedienen eines Waschautomaten. Aber auch ihr eigener Schwager habe erst kürzlich beim Zähneputzen der Kinder hektisch aus dem Bad gerufen: „Ich brauch ein Handtuch … ich brauch die Seife…“. Die Hegemonie der Mutter über den Vater nennt man heute ‚Maternal Gatekeeping‘. Jeder muss sich da selbst einig werden, kürzt Bettina ab, die Ihr Tiramisu noch ein bisschen nachschmeckt. Katrin teilt sich die Aufgaben mit ihrem Mann in ‚Drinnen und Draußen‘ auf. Wobei das Draußen bedeuten kann, die Maden von den Stachelbeeren absammeln zu müssen, und das Drinnen jedes Jahr verlässlich mit der Steuererklärung, ob gegendert oder nicht, auf sie warten würde. Drinnen wird nicht immer geputzt und draußen nicht immer das Geld verdient, „heute schon gar nicht mehr“, sagt Erika und klopft zwinkernd auf meinen Schreibblock.
Und wieder sind wir bei Tierphobien und hüpfen Erikas Gedanken hinterher: Einmal habe ihr jemand einen Frosch in den Nacken gesetzt. Da habe sie auch mit neuer Hüfte schneller aus ihrem Swimmingpool springen können als der dort Überwinternde. Und ihr Sohn, springt Ursula ein, habe einmal bitterlich geweint, als er anderer Amphibie mit dem Mäher den Kopf abgetrennt habe. Sie selbst erinnere sich an den Anblick einer braunen, ziemlich breiten Kröte, die mit weit offen stehendem Maul, schon gallertartig schimmernd, im Gartenteich untergegangen sei.
SCHWEIGEN. Knuspern, ein leises Aufstoßen, ein Löffel, wie er in koffeinfreiem Kaffee schüchtern klimpert, während ich überlege, eine Reihe über wechselwarme Ängste und den subtilen Crime präparierter, heimischer Tierarten zu schreiben, oder, wie immer, über alles durcheinander. Das wäre mein Beitrag zur Reihe ‚slow living‘, die in der Gute Hoffnung – leben kürzlich mit dem Programmpunkt ‚Slow food‘ startete.
In den 50er- und 60er-Jahren musste man erfinderisch werden, wenn man sich zu Hause ein Tier halten wollte. Hunde und Katzen verbot der Kruppschen Wohnungsbau. Einen mit Seifenpulver gequälten Mischling habe Sofia einmal gerettet. „Naja, jedenfalls habe ich alles aufgesammelt, was noch humpeln oder schleichen konnte“, habe sie mit einer Pinzette Tiere anderen Tieren zum Fressen gegeben und einen Goldfisch zum Tierarzt gebracht, wo der tägliche Reinigungsbäder verordnet bekam. Kaulquappen würden bei Katrin im Blumenbeet zu Grabe getragen, der Vorgarten sehe dafür sogar eine eigene Kapelle vor, gebaut von Katrins zehnjährigem Sohn. „Einmal ist Peterchen weggeflogen“, erzählt uns Ursula eine etwas längere Geschichte darüber, wie sie die Verantwortung für den Wellensittich ihres Nachbarn übernahm. Ein anderer Nachbar, der eine große Vogelvoliere im Garten pflegte, habe Peterchen dann leugnen wollen, bis der sich aber auf ein Pfeifen hin flugs auf des Herrchen Schulter niederließ. Auch Erika hat noch etwas beizutragen, erzählt von:
- der Inkompatibilität zwischen Wellensittichen und Kanarienvögeln,
- vom Sitzen eines rosa Häubchens auf einer Hand, die dabei stricken konnte
- und dass sie heute auf „fremde Biester“ nicht mehr aufpasse!
Lieber reise sie, um sich selbst mit anderen Nationalitäten zusammen auf eine Stange setzen zu können und andere würden dann entscheiden, auf welcher Seite der Gitterstäbe sie sitze.
Ähnlich wie die moderate Mitte, wenn es politisch oder kritisch zu werden droht, neigen die Frauen dazu, etwas plötzlich einzuwerfen, so, als dulde es keinen Aufschub mehr. So, als habe es jahrelang darauf gewartet, sich frei zu machen, so, wie Katrin von ihren langen Haaren, als der Urlaub der Frisörin kein Argument für sie war. Und so erzählt Ingrid dann:
„Als zwei Kinder den Auerhahn von der Wand nahmen und mir, mit dem Tier in der Hand, nachgelaufen sind, bin ich schreiend stiften gegangen, habe mich in den schmalen Spalt zwischen meinem Bett und der Wand gekauert. Da hat meine Mutter, bevor sie mich mit nach Hause nahm, den Auerhahn gepackt und im Schuppen zerlegt und verbrannt. ‚Ich habe schon ein Kind verloren‘, hat meine Mutter gesagt, ‚ich will nicht auch noch Dich verlieren.‘“
Wie zur Katharsis liefert Katrin gegen 17 Uhr ein paar aktuelle Zahlen zur Ornithologie des Ruhrgebiets. Die Vogelzählungen des Naturschutzbundes, den sie ehrenamtlich zusammen mit ihrem Mann unterstütze, hätten einen erschreckenden Rückgang heimischer Vogelarten verzeichneten müssen. Ich nehme mir vor, auch die weißen Eichhörnchen zu googlen, die Beate einwirft, und mir dann etwas dazu auszudenken, dass dann wie all die Beiträge dieses Blogs den Senioren der Gute Hoffnung – leben in der nächsten Montagsandacht vorgelesen wird. Eigenes dem gelebten Leben, so, dass das ‚Selbst‘ aus der Demenz noch einmal zu sich zurückkommen kann. Hier, in der Guten Hoffnung, Mehrgenerationsprojekt für ein lebenswertes Sein im Alter. Hier, wo wir an einem Samstagnachmittag daran erinnert werden, uns zu fragen, wo und wie wir selbst, mitten im Leben, später leben wollen, wenn wir alle mal 120 werden sein werden.