Kirmes Heiligabend

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„Nächsten Monat muss das Erzählcafé ausfallen“, begrüßt mich Kathrin, in gewohnt trällernder Melodie und mit doch fester Absicht auf der Inhaltsebene, „da ist hier in Sterkrade Fronleichnamskirmes!“. Kurz stelle ich mir Helga, Hermann und Edith in der Krake vor, wie sie kopfüber durch die Luft wirbeln und Zuckerwolken aus der Luft verkasematuckeln, will protestieren, dass wegen eines Riesenrades wohl kaum eine Veranstaltung mit Senioren im zweistelligen Bereich ausfallen könne, da werde ich erstmal ‚getauft‘…

‚Kirmes Heiligabend‘ müssen die Sterkrader nur wie auf ein Stichwort rufen, wenn sie für den Tag, noch vor dem offiziellen Beginn der Veranstaltung des Jahres, frei kriegen wollen, erzählt mir Kathrin. Wenn Oberhausen zum Fest des ‚heiligen Leibes‘ für vier Tage den Ausnahmezustand ausruft, könne sich jede Sterkraderin und jeder Sterkrader des Verständnisses am Arbeitsplatz sicher sein, denn schließlich gelte es ja, sich schon einmal ein bisschen einzuschwindeln, ’reinzufeiern, die Vorfreude zu genießen, macht mir die Quartiersarbeiterin der Gute Hoffnung leben und wohnen mit ansteckender Begeisterung die 187 Jahre alte Sterkrader Fronleichnamskirmes, größte Kirmes Europas, schmackhaft.

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Kathrin Engels, Quartiersarbeiterin mit Herzblut, die Bewohner des Seniorenzentrums mit Ehrenamtlichen aus dem Viertel vernetzt, lässt sich nicht erst auf Diskussionen ein, wenn es darum geht, „ihre Lieben“, wie sie gerne sagt, in ihrem Freizeitvergnügen zu organisieren und für sie viele Angebote ‚im dritten Lebensalter‘ möglich zu machen. „Also ich bin nicht schwindelfrei“, beteuert mir Hermann leise aber nachdrücklich, der mir offenbar ansieht, dass ich immer noch damit beschäftigt bin, mir weiße Dauerwelle im Schwebeturm vorzustellen, passend zu den Kumuluswolken darüber. Doch da kommt schon Doris dazu, wie zu Hermanns Schutz, „du nicht, Hermann, aber Deine Helene, die geht, direkt nach der Fronleichnahmsprozzession um Punkt Elf!“, so als hätten der fidele 80-Jährige und seine feierfeste Frau Helene einen Ruf zu verlieren.

Auf diesem traditionsreichen Jahrmarkt sei „die ganze Brandenburger Straße gerammelt voll, „richtige Menschenschübe wälzen sich da durch den Stadtteil“, schiebt Doris schnell selbst hinterher, für den Fall, dass ich noch etwas hartnäckiger versuchen sollte, die Konkurrenzveranstaltung zum Erzählcafé für die Senioren auszuhebeln – keine Chance.

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Je zweifelsfreier aber von Minute zu Minute das Kirmesvergnügen für Mai besiegelt ist, desto mehr scheinen die Frauen und Männer das Treffen heute genießen zu wollen. Mit Wertschätzung füreinander in Form kleiner Gesten wird nicht gegeizt, auch nicht an mich. Lilly überreicht mir behutsam und ein bisschen aufgeregt ein in Eulenpapier verpacktes Geschenk, das sich als eine Packung Minzschokoladentäfelchen entpuppt. Sehr hat sich die alte Dame über das Bild von ihrem alten Haus im Humboldthain gefreut, ihrem ehemaligen Zuhause in Mülheim an der Ruhr, das ich ihr einen Monat zuvor fotografiert hatte. Noch gerührt von der Rührung Lillys wirft mir Rosemarie in ihrer gewohnt lapidar-herzlichen Art einen Gefrierbeutel, gefüllt mit gestrickten Socken, auf das Platzdeckchen, zwei Paar dürfe ich mir für meine Söhne aussuchen. Ich komme so eben dazu, mir ein tomatenrotes Modell mit dunkelblauen Versen aus der Tüte zu zücken, da schwelgt Doris schon wieder in Vorfreude auf die Sterkrader Kirmes, dass ein richtiges Panorama aus Schaustellern, Imbissbuden und Schießständen vor dem inneren Auge ensteht. „Da sind viele Verkäufer, die man über die Jahre kennt, der Holländer mit den Topfpflanzen ist immer da und den Kibbeling ess ich gerne, aber ohne Mann muss man da aufpassen, auf die Handtasche“, senkt Doris ein bisschen verschwörerisch-kennerhaft ihre Stimme, „mit Mann musste vor allem auf die Uhrzeit aufpassen“, erwidert Edith ihr wie im Einvernehmen, dass alle lachen und nun auch ich vom ansteckenden Charme der ‚Kirmes Heiligabend‘ überzeugt bin.

„Früher ging der Spasss nur von Freitag bis zum Feuerwerk“, sagt Rosemarie ein bisschen rügend wie an ein imaginäres Gegenüber, „danach war Schluss!“, rüffelt sie in die Runde hinein und kommt weiter ins Erzählen: von den „Tingeltangelmädchen“ und „der Frau ohne Unterleib“. Ich erfahre, dass die eine Attraktion um zwei junge Frauen kreist, die in den 60er-Jahren „na so halb nackend ’rumgemacht haben“, während über die merkwürdige Entbeinung von Rosemarie nicht mehr zu entlocken ist, als dass ein Seehund unter Wasser zuverlässig eine Reihe Schaulustiger an der Nase herumgeführt haben muss.

Die Runde kommt noch aufgeräumt auf das Thema der richtigen Balance zwischen Vergnügungslust und Alltagsernst zu sprechen, wird sich aber heute nicht mehr einig, wie lange sich die Sterkrader dieses Jahr nun tatsächlich zu versalzenen Champignons und Sahneeis werden gehen lassen können. Gewiss ist: sie werden, Jung wie Alt.

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Irgendwie kommen wir von Akrobatik und Artistik auf das Thema Geschenke und Gaben zu sprechen und darauf, wie es früher, so kurz nach dem Krieg im Ruhrgebiet, möglich war, seine Menschen mit etwas Nettem zu bedenken, in Zeiten der Not, ausgebombt, so nahe der Stahlindustrie, so nahe am Rhein, zu nah –. „Da ging lange gar nichts“, sagt Doris, zueigen gemacht habe man sich über lange Jahre ein ganz genaues Abwägen, was man sich leisten konnte, was nicht, berichten die Senioren. Geschenkt wurde nur so viel, wie nötig war, um Bindungen halten zu können und eben so wenig, wie nur ging, um sich als soziales Wesen selbst noch spüren zu können, mit Wünschen, Bedürfnissen, dem Wunsch nach Vorsorge.

Doris habe gern Sammeltassen verschenkt, sagt sie, und üblich sei es gewesen, diese sich nach oben hin breit öffnenden Trinkbehältnisse zum Sammeln und ‚für Gut‘ aus hauchdünnem Porzellan obendrein mit Pralinen zu füllen, „gern kleine Tassen“, sagt die offene Dame mit dem Kurzhaarschnitt heute lachend, „damit nicht so viel reinging“. Ursula weiß spontan anzuschließen, dass sie damals – noch in England – in ihrem Büro dafür ausgeschimpft wurde, Tee in einer Kaffeetasse ausgeschenkt zu haben, „für mich war Tasse Tasse“. Aber die Chefin, so schüttelt Ursula sich in der Runde eher moderater Genießer sichtlich bestätigt fühlend den Kopf, die habe ja sogar ihre Banane mit Messer und Gabel verkostet, „das war ein ganz feines Fräulein“.

„Fräulein sagt man ja heute nicht mehr“, notiere ich mir den Einwurf von Helene und darf eintauchen: in eine Revue unausgeprochener Regeln für die gleichgeschlechtliche Partnerschaft in den 50er-Jahren… Während das ‚Frollein‘ die ‚Junggesellin‘ meint, wie die Damen und die Herren zusammentragen, hätten verheiratete Frauen immer rechts zu gehen gehabt, „ach Du meine Güte“, raunt es da von verschiedenen Seiten des Kaffeetisches durch den Kranz aus Zeitzeugen. Für die fühlen sich, das ist deutlich spürbar, diese Regeln auf für sie selbst in diesem Moment überraschende Weise sehr weit weg an und furchtbar lang her. Nicht verwunderlich, dass die pragmatische Rosemarie, wie zum scharfen Abbiegen, unvergleichlich auf den Punkt bringt: „Die Männer liefen einfach immer an der Seite, wo die Straße war, damit die vom Auto überfahren werden“, (haha von Hermann), „und von den Pfützen nass gemacht werden“, (hoho von Helga).

Alle wirken heute insgesamt so pragmatisch wie unsicher in der Rückschau auf die eigene Zeit, in der Männern eine Seite des Gehwegs zugewiesen war, Frauen die scheinbar ungefährlichere.–

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„In England bilden ’se immer Schlangen, ne?“, nimmt Rosemarie mit festem Blick auf Ursula dem Thema Sitten und Bräuche ihre gechlechterkritische Brisanz und erfährt von Ursula, die lange Zeit an der Südküste gelebt hat, dass das Benehmen der Gentlemen in London abgenommen habe, seit die Stadt und ganz England ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen geworden sei, die jede auf ihre Weise nicht nur an Ladenlokalen und Schnellimbissen anstünden, sondern auch nach eigenen Regeln einen Linienbus besteigen würden. „Da gibt es doch diesen einen Witz“, nimmt da Ursula die Engländer selbst ein bisschen british auf die Schüppe: „Die Iren machen ’ne Brauerei auf, die Engländer bilden ’ne Schlange“.

Und dann streikt die Müllabfuhr. „Die Müllabfuhr streikt“, greift Rosemarie wie aus der Luft, und kurz denke ich, dass uns so langsam die Gesprächsthemen ausgehen, an diesem sonnigen Apriltag, an dem man den Frühblühern beim Sprießen zuschauen könnte. Aber weit gefehlt. Kurz kann ich meine eigene Anekdote zum Thema Städtische Betriebe zum Besten geben, nämlich dass ich (weil ich mir mit 16 keine Gedanken darüber machte, dass man den Mitarbeitern der Entsorgungsbetriebe, die sich das ganze Jahr über um unsere Abfälle kümmern, zum Jahreswechsel auf den obligatorischen Weihnachtsgruß an der Tür hin ein Trinkgeld gibt) einem ‚Müllmann‘ ein frivoles „Ach wie nett, das wünsche ich Ihnen aber auch, tschü-hüss!“ entgegenschmetterte. Hier in der Runde einer Generation, zweier über meiner, ernte ich dafür aber ein großzügiges Schmunzeln. Und dann erfahre ich, während die Glockenblumen draußen vor dem knallterrakottafarbenen Seniorenzentrum aus den Knospen schießen, von einer 20 Jahre währenden Freundschaft zwischen Rosemarie und einer Briefträgerin, von dem Haussegen sauerländischer Nachbarn und von Tipps, sich auf verwegene Weise überquellender Tonnen zu entledigen…

„Ich hab sie nie zu Gesicht bekommen, denn es war ja immer so früh am morgen, als die Zeitungen ausgetragen wurden, ich hab es mir immer vorgenommen, sie zu treffen, es aber nie geschafft“. Doch die kleinen Zuwendungen, von denen Rosemarie erzählt, und die erkauften Gefallen, die noch viel spannender sind, mussten Tradition in der Straße gehabt haben, irgendwo im Oberhausen Sterkrade der Nachkriegszeit: „Wenn ich ’ne Pulle neben die Mülltonne gestellt habe, durfte ich mehr Müll machen“, berichtet Rosemarie stolz von der ruhrpottschen Schläue, Rum oder Wein also, von Kompost bis Altpapier galt: Haupsache, es knallt.

Auch Kathrin hat zum Thema ‚Dienstleister der Morgenstunde‘ einen Beitrag zu leisten, hat sie sich doch als Jugendliche ein bisschen Taschengeld dazuverdient und in dem einen Sommer dem Milchmann und in den nächsten Herbstferien der Zeitungsausträgerin unter die Arme gegriffen, „das war in unserem Landstrich im Sauerland üblich, dort, wo der Eiermann nicht nur Eier verkaufte, sondern neben Fleisch auch T-Shirts und andere Non-Food-Artikel“, schmunzelt die heutige Wahl-Ruhrgebeitlerin. „Und man hat in so einem 500-Seelendorf prächtig erfahren, was bei den Nachbarn so los war“, kichert sie und mit ihr auch die anderen verschmitzt, jede und jeder auf seine Weise gewitzt im Umgang mit bissigen Hunden und verkorksten Tagen morgens um 5 Uhr. „Da ereigneten sich die schlimmsten Ehedramen und Streitigkeiten, mit pubertierenden Kindern, die schon wieder zu spät von einer Party kamen oder Ehepartnern, die wiederkamen und niemand wusste, woher“.

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Es ist nun schon später am Nachmittag an diesem Frühlingssamstag, mitten im Quartier der Gute Hoffnung leben, da kommen die Bewohnerinnen und ich noch darauf zu sprechen, wie die Beiträge eigentlich erscheinen, die ich über das Erzählte hier schreibe. „Smartphones“, wirft Doris in die Runde, „die hatten wir früher nicht, wir hatten irgendwie andere Probleme, uns die Zeit zu vertreiben“. „Ich schreibe manchmal“, gebe ich in die Runde, „bewusst auf einer Schreibmaschine“, so wie Kathrin noch eine echte Feder in die Tinte taucht, erzählt die Mutter von drei Kindern, die das Erzählcafé mit mir veranstaltet und erklärt „das ist ein ganz anderer Prozess, da musst du dir genau überlegen, was du schreiben willst, denn löschen kannst Du es nicht mehr“.

Für Tablets aber, da sind sich alle einig, haben die Senioren hier keine Zeit, ob auf Englisch oder Deutsch. Einen Drucker, den habe man, und trotzdem neulich von der Brieffreundin den Rüffel geerntet, man solle sich einen anständigen Füller kaufen und „dann mal mit Füller schreiben!“, haut Rosemarie zum Abschluss auf den Tisch. Denn es könnte ja sein, dass einer auf Löschen⇐ tippt und sich dann heimlich zur Kirmes schleicht…

 

 

 

 

 

 

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