Bückling kann ich nich, auch nich mit Sekt

eingang„Fisch oder Fleisch?“ fragt Heinz, als wir über unsere Festtagsmenü-Pläne zu Ostern sprechen. „Als ob Du Fisch machen würdest“, streichelt Helga, seine Frau, ihm sanftmütig-rüffeln über den Arm und lacht. „Stockfisch, und getrockneten Fisch auch, hehe“, kichert Heinz und findet sich dabei selbst sehr liebenswürdig.

Das zarte, schmale Paar – beide hellgraue Haare und fein geschnittene Gesichter, beinahe gleich groß – sitzen am Kopf des langen Kaffeetisches, an dem sich heute die Bewohner_innen der Gute Hoffnung leben und des Quartiers Oberhausen Sterkrade, allein oder mit ihrem Partner, zum Erzählcafé versammelt haben, um sich über das Heute auszutauschen und an das Gestern zu erinnern. Routiniert wird der Kaffee ausgeschenkt, und schon folgen alle, auf das Stichwort ‚Wochenmarkt‘, Ruths spontaner Kurseinheit über das Zubereiten feiner Brühen: „So eine schöne Hühnerbrühe“, beginnt die charismatische Frau mit der goldblonden Kurzhaarfrisur und den knallrot geschminkten Lippen ihre Ratgeberstunde, „die kann man gut einfrieren, für die Erkältungszeit, aber auch im Frühling tut die, wenn ’se nur ordentlich kräftig ist, richtig gut“. Rindfleischbrühe nur sieden lassen, sonst trüb, notiere ich mir schnell, bevor ich weiter den Erzählungen über frische Schollenfilets und Bücklingspfannekuchen lausche, mit dem Friedhelm prägende Erfahrungen haben muss: „Nä, Bückling kann ich nich, auch nich mit Sekt!“ Was eigentlich eine Poularde sei, fragt Emi noch einmal an das Geflügelthema anschließend, da sagt Ruth: „Das ist ein kastriertes Huhn.“

Will man dem Kochbuchkanon internationaler Grundrezepte trauen, dann handelt es sich bei der gern als seine Brust zubereiteten Poularde um ein Masthuhn kurz vor der Geschlechtsreife. Doch das Lachen ist laut, als Hilde auf Ruths Kastrationskunde einwirft, sie koche generell kein Huhn, denn dann rieche es bei ihr im ganzen Haus nach Hühnerstall, und Ruth ihr durch das Gelächter hindurch noch den Tipp zuruft, „dann koch mal nur die männlichen Tiere, die Erpel“, woraufhin Heinz feststellt: „Ruth hat die Männer zum Fressen gern“.

IMG_2219Wir kommen immer munterer ins Plaudern, über Kochgewohnheiten und die Tischkultur der 40er-Jahre, über das echte Wissen über Tiere und ihr Fleisch und darüber, dass Männer und Frauen heute gleichermaßen gut kochen können, nur anders. „Die machen keinen Wocheneinkauf mehr, meine Schwiegertöchter, und es gibt immer Reis und Nudeln“, stellt Doris fest und gibt einen kleinen Einblick in die Vorratsroutine der ‚einfachen Leute‘: „Wir haben früher acht Zentner Kartoffeln liefern lassen und die wurden dann eingekellert“. Als ich die Stichworte ‚vegetarisch‘, ‚vegan‘, ‚gluten-‘ und ‚lactosefrei‘ einwerfe, kann ich Fructoseintoleranz nicht mehr sagen, da sind sich die Jahrgänge 1930 bis -50 einig: „Das sind Probleme der heutigen Wohlstands- und Überflussgesellschaft. Diese Sorgen haben wir uns früher nicht gemacht“. Schnell wirft Emi, aus verständnisvollem Augenwinkel mit mir ein, „die Tiere wurden aber auch anders gehalten, Heinz“, und da zücke ich, wie auf Einsatz, das alte Foto vom Humboldthein, das ich für Lilly, eine ehemalige Bewohnerin dieses Fleckchens nahe Heimaterde, gemacht habe. Humboldthein ist so eine alte Arbeitersiedlung in Mülheim an der Ruhr, in der Schafe, Schweine und Hühner noch in Ställen unter dem Schlafzimmerfußboden nächtigen durften.

Was die Runde aus Köchinnen und Köchen aus seinem aktiven Wortschatz plaudert, könnte dem Rhythmus des WDR 5-Morgenmagazins entflossen sein. Manches davon wird die Generation Thermomix nicht mehr kennen, manches lohnte sich vielleicht einmal, an der Theke zu bestellen, wenn man schon Fleisch ißt und das Halbwissen um Methangase links liegen lässt: Nierchen, Nähtchen und hohe Rippe, Piment, Lorbeer und Pfeffer, Wacholder, Suppengrün und Zwiebelsuppe, falscher Hase, Kartoffelstampf und Sandknochen ohne Mark. Es klingt wie Musik, auch, wenn Ruth so unbeabsichtigt von einem großen Potenzial erzählt, aus dem sie als Hauswirtschafterin heute nicht mehr schöpfen könne: „Für mich allein koch ich nicht mehr, das kannste ja nicht richtig abschmecken, und auf dem Markt lassen ’se dich auch nicht die Kiemen anschauen, ob die schön rot sind“.

Plötzlich ein bisschen betrübt erzählt Ruth dann von ihrem propperen Enkelsohn. Gut genährt sei der, entdeckungsagil und insgesamt gut drauf, „so’n richtiger Strahlesiebzig, aber weißte, dann ißt der wie verrückt und da brichste dir den Arm ab, wenn du den halten mußt, ich kann das eh nicht mehr, entweder Krücke oder Kind“.

seilbahn

Das Licht fließt heute im Erzählcafé Streuselkranz, am Samstag vor Ostern 2016, einmal kuchengelb über die Donauwellen und Pistanzienkrümel und spielt dabei verlockend mit dem Erzählhunger der heutigen Teilnehmer des Erzählcafés Streuselkranz. Die Damen und Herren haben kaum ihren ersten entkoffeinierten Kaffee – „kastriert mit ’nem Schuss Milch“ und „alkoholfrei mit ein bisschen Zucker“, wie sie sagen – getrunken, da sind wir schon beim nächsten Thema, der angemessenen Unterhaltung für den Säugling.

„Nee, das ist heute nicht so ganz unproblematisch“, muss ich Doris ein bisschen ausweichen, als sie mich fragt, ob ich auch einen sogenannten ‚Gehfrei‘ für meinen Sohn hätte. „Die waren so gearbeitet, dass die Kinder frei laufen konnten, aber nicht überall dran kamen.“ Kurz denke ich nach über diesen gehässigen Mix aus Freiheit und Leine, dann erzählt Doris weiter: „Wir hatten damals auch so einen Laufstall für unsere Kinder, aber da saßen dann am Ende alle drin, die ältere Schwester, ich und mein Mann, während unser kleiner Sohn die Schränke ausgeräumt hat.“

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Mein kleiner Sohn, der geht in der Runde aus aufgeräumten Damen und Herren, die sich heute zum Erinnern treffen, einmal reihum. Doch da ist kaum jemand, der ihn länger als drei Minuten aushalten könnte, so wie Gertrud: „Ja, ich meine, die Kinder seien heute viel wacher, guck mal Inge, der unterhält sich richtig mit seinen Augen!“, stellt die Oma von vier Enkeln fest, ein bisschen eingeschüchtert und fast entschuldigend von dem 76 Jahre jüngerem Wunderkerlchen, das sich da aus ihren Armen zu wippen und stemmen sucht und das von ihr deshalb schnell wieder auf den Boden gesetzt wird, wo es fasziniert das Stäbchenparkett zu untersuchen beginnt.

„Ach, ich finde das gut, wenn die überall krabbeln dürfen“, sagt Ruth, „ist nur schwierig, wenn Hunde im Haus sind“. Neulich habe Ruth einen Fernsehbericht gesehen, in dem es darum ging, dass Hunde gute Seelentröster für Senioren seien, „den Teil, der mich interessiert hat, habe ich verpasst, hängen geblieben ist nur, dass man sich mit 80 keinen Hund anschaffen sollte, der einen vielleicht noch überleben kann“.

Was Ruth sagt, lässt mich schrill auflachen, macht mich aber umso nachdenklicher, als mir bewusst wird, dass Ruth tatsächlich irgendwann angefangen haben muss, anders mit ihrer Lebenszeit zu rechnen. Oft sagt mir dann und wann einer, wenn ich wieder einmal feststellen muss, wie grausam die Nachkriegsjahre im Ruhrgebiet gewesen sein müssen, „ach, das ist doch schon sooo lange her, wissen Sie denn nicht, wie alt ich bin?“ Umso erstaunlicher, wie manche Dame und mancher Herr, der sich hier im Quartier gut eingelebt hat, immer noch die Welt entdeckt. Wie zum Beispiel Doris.

„Ich bin ein Mensch, der kein Problem damit hat, auf Fremde zuzugehen“, sagt die unversehens als ich sie frage, wie ihre viermonatige Reise nach Tunesien gewesen sein. Die 78-Jährige bereist oft allein Länder, die sie noch nicht kennt, genieße die Seeluft, wie sie sagt und könne, weit weg von Zuhause, meist besser laufen, auch wenn so ein Bus in Nordafrika für ihre Verhältnisse günstig sei: „Da zahl’se umgerechnet 50 Cent und dann fährt dich das Luage-Taxi nach Sousse oder zur Medina, das ist das großes Einkaufszentrum dort“. Nachmittags habe die fidele Dame mit der schwarzen Stachelfrisur und dem Glitzerpulli immer Boccia gespielt, „und das in einem Pulk von Männern, aber ich habe denen gleich gesagt: ‚Ich suche keinen Mann!‘, da haben die zwar nur geguckt, aber es irgendwie so hingenommen, und demnächst fahre ich nach Elisabethszell, zum Singenden Wirt in den Bayerischen Wald.“

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„Ich war 1960 in Berchtesgaden mit einer Arbeitskollegin“, steigt Helene mit in unser Erzählen vom Reisen ein, dem neuen Wetter. Die Fahrt habe sie damals schon selbst finanzieren können, obwohl sie ihre Eltern um Erlaubnis habe bitten müssen, erzählt mir die hochgewachsene Dame mit dem gefassten Ausdruck hinter der Brille von ihrer Unfreiheit als junge Frau. Helene hatte sich damals vorgenommen, ein Reisetagebuch zu schreiben, und sei heute erstaunt über ihre Präzision: „Wie genau ich die Äußerungen von anderen Menschen dokumentiert habe, überrascht mich heute selbst!“. Sie sei nicht so ein „blumenreicher“, „romantischer Typ“ gewesen, sagt Helene, eher sachlich, und sie müsse sich das Schreiben eher diszipliniert vornehmen, als dass es ihr „via Muse irgendwie in den Stift gerät.“ An den lustigen Verhörer auf einer Geflügelfarm könne sie sich allerdings wie gestern erinnern. Kurz hatte sie sich damals, im Süddeutschland der 60er-Jahre, gewundert, warum die Landwirtin von ‚Eilegern‘ als Hühnchen spreche, sich aber für die Rückfahrt in die Heimat aus Höflichkeit gleich zwei Portionen Geflügel einpacken lassen. Wieder zu Hause, die Tasche auf dem Küchentisch, zückte Helene dann zwei Flaschen Eierlikör aus ihrer Tasche hervor.

Ein bisschen rosa schießt Helene die Hitze noch beim Erzählen der Geschichte in ihrem für ihre Generation so anmutig-harmlosen Humor ins Gesicht, so als sei es die späte Verwunderung über die eigene Unsicherheit als junge Frau, über die von vornherein eingeschüchterte Interpretation fremder Menschen im Ausland und was die sagen oder eben nicht. Lieber habe Helene dann einmal mehr nicht nachgefragt und vorsichtshalber alles bejaht. So auch einer anderen Gastwirtin, die sie fragte, ob Helene einen „Bettteppich“ haben wolle, und auf Helene Zusage zu einer Bettdecke, wie die glaubte, dann etwas länger nicht aus der Stadt zurückkam. Schließlich musste die Süddeutsche nun für diesen schwierigen Gast aus dem Rheinland eine Läufergarnitur beschaffen, passend zum Plumeau, mit Rosen und Fransen.

Nun wird wieder gelacht, während ich noch dem hinterherzuhaschen versuche, das Helene irgendwie in nicht unbeträchtlichem Maß zwischen den Zeilen erzählt hat. Die Eltern, die jungen Frauen, das Reisen im Nachkriegsdeutschland.– Die Generation, in der Helene aufgewachsen war, sei nicht so aufmerksam für Kinder gewesen, bestätigt auch Doris: „Die haben alles für mich gemacht, aus ihren größeren Kleidern zum Beispiel kleine Kleidchen genäht, für mich“. Aber wer in dem Pulli wirklich drin steckte, das wussten sie manchmal eigentlich nicht.

 

 

 

 

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