All we have to do: Kunst rauslassen!

Der Weg zur Guten Hoffnung

Blitzschnell haben sie mich fixiert: Zwei kleine Mädchen mit Zöpfen und Zottelpony, die bis eben noch aus Schaumstoffwürfeln, Trapezen und Halbrundsäulen ihr Reich vor das bodentiefe Fenster gebaut haben. Aus der Neuapostolischen Kindertagesstätte NAKiTa folgen sie mir mit Nasen an der Scheibe, den ganzen Fußweg „An der Guten Hoffnung“ entlang, bis ich mit meinem Sohn in der Trage das Seniorenzentrum Gute Hoffnung leben und wohnen erreicht habe. Hier ereignet sich heute am 29. Oktober 2015 das „2. Sterkrader Symposium über quartiersnahe Versorgungskonzepte für Menschen mit Demenz“.

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Das gleichmäßige, alles überdröhnende Gebläse der städtischen Viertakter, die Herbstlaub pusten, Äste hexeln und Rasen rasieren, werden mit jeder Automatiktür leiser, die sich hinter mir wieder schließt. Doch Sterkrades Betriebsamkeit an diesem Donnerstagmorgen setzt sich im Café Bistro Jahreszeiten fort, dem gemütlichen Portal des Zentrums: Eine große Metalltafel kündigt Workshops an. Etwa über „Treiber“ soll später gegrübelt werden, oder die „Best Practice“, wie neben dem Empfang zu lesen ist.

Sterkrade ist Treffpunkt für Ideenentwickler, für praktische Theoretiker und beherzte Akteure, die mitten im Ruhrgebiet etwas schaffen wollen.

Eine große Schale roter Äpfel glänzen am Empfang ins Auge. Erste Besucher untersuchen die Früchte wie einen fossilen Fund, als sie Mappen überreicht bekommen. Eine Attrappe als dekoratives Stimmungselement anzunehmen wäre an diesem Ort allerdings so fehl am Platz wie Holzbriketts in Augustinus‘ Feuer, das, so ist schon jetzt klar, 2015 nicht kleiner lodert. Unter der Partygirlande „Gute Hoffnung leben“ – anfangs bei der Einweihung des Gebäudetraktes vielleicht einfach mal vergessen, inzwischen aber traditionsreich und ganz sicher stilbildend – kündigen Kreideschnörkel die „Aktionswoche rund um den Apfel“ an. Ja, in der Gute Hoffnung leben und wohnen wird in dieser Woche nicht nur über die Aktivitäten rund um Versorgungskonzepte für Menschen mit Hirnleistungsstörung gesprochen. Die haben selbst zu tun. Manche wohnen hier in diesem Gebäude mit dem knallterrakottafarbenen Fassadenanstrich und schmecken den Spätherbst, eignen sich den Apfelgeschmack neu an, um sich das kitzelige, vertraute Gefühle auf der Zunge zu erinnern.

Was ist das Quartier?

Zuhause ist dort, wo man sein will. Wo man sein zu wollen wählt, solange man kann. Das Quartier ist das erweiterte Zuhause, der Nahraum um das Zuhause herum, wo jeder jeden kennt, wo Nachbarn füreinander da sind, ohne Frage oder Schuldenkonto. Sterkrade ist so ein Quartier, das als Oberhausens zentraler Stadtteil die infrastrukturellen Variablen abmischen kann, die es braucht, um Menschen mit Demenz in der Gesellschaft zu behalten. Vor allem aber lebt es all das, was ein Quartier ausmacht: eine gesunde Mischung aus Altruismus und Selbstverständlichkeit, aus einem dem anderen ganz zugewandten Denken und Handeln, ja, aus einer inneren Haltung, die ganz einfach da ist.

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Sterkrade funktioniert in dieser Hinsicht bereits, wissen die, die Demenz bereits als etwas ‚Normales‘ in den Alltag integrieren und vermuten jene, die Demenz als Forschungsthema ernst nehmen: Das sind zum Beispeil Ingolf Rascher von der Ruhr Universität Bochum oder Katrin Engels von der Gute Hoffnung leben und wohnen, die Bewohner_innen mit Ehrenamtlern vernetzt und Patienten vor und nach Krankenhausaufenthalten begleitet. Oder das ist der Kaufmann Robbie Schlagböhmer, Inhaber eines Reisebüros und Vorsitzender der inzwischen über 100 Mitglieder starken Sterkrader Interessengemeinschaft STIG e.V.. Das sind der Soziologe Prof. Dr. Rolf Heinze von der Ruhr-Universität Bochum oder Holger Eichstaedt vom ‚Netzwerk Demenz Oberhausen‘, dem 1. Vorsitzenden des Vereins „Lebensqualität bei Demenz“.

Offen bleiben, fleißig sein

Andrea Stromenger, Pflegedienstleitung von der Gute Hoffnung leben und wohnen, eröffnet die Veranstaltung in Vertretung für Stefan Welbers, den Einrichtungsleiter und Veranstalter des Symposiums. Barbara Steffens habe sich für heute etwas früher angekündigt, weshalb der Moderator kurzerhand zwischen den Schauplätzen wechseln müsse, um die Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter zu begrüßen.

Versorgungskonzepte nahe am Quartier der Menschen mit Demenz zu entwickeln, das ist acht Jahre nach dem von Eichstaedt gegründeten Netzwerk ein so aufwühlendes wie gesetztes Unternehmen zugleich. „Wir waren fleißig“, zeigt die aufgeräumte Sympathieträgerin auf ein großes Plakat an der Seitenwand, das rund zwölf Quartiersprojekte vorstellt, schön authentisch mit Buntstift und Pixelausdrucken, ganz anders als auf einem Flipchart. Besonders echt ist auf diesem Symposium aber vor allem: Dass man mit den spontanen Rednerwechseln, dass man in den Gesprächen zwischen Vorträgen und Diskussion, bei Gulaschsuppe und Laugenbrötchen, links und rechts der kleinen Aufmerksamkeiten, die man verteilt, die Vision bereits performativ realisiert – schreibe ich mit ungelenker Hand in meinen Block, während Welbers, inzwischen zurückgekehrt und Ministerin Steffens zu ihrem Tisch begleitend, schon wieder zwischen den Stühlen springt und Flaschen hochwertigen Apfelsaftes von festem Korken befreit: für jene, die gerade entweder stillen oder aussehen, als möchten sie Apfelsaft trinken.

Ein Baum schmunzelt verfilzt durch dicke Wangen – die Bastelarbeit einer befreundeten Waldorfeinrichtung. Sonnenblumen, leuchtende Lampignons und gedrechselte Holzpilze stimmen in die besinnliche Jahreszeit ein. Kleine Beeren streuen sich wie schelmisch über die Tische, als erwarten sie auch geistige Ernte nach heutigem Programm. Ein Mann klappt einen Zauberwürfel auseinander, der vor ihm liegt, das originelle Give-Away eines Dienstleisters für Case- and Care-Software im barrierefreien Wohnen:„Leistungspaket: Analyse und Ablaufoptimierung“ steht auf der einen Seite, „Vertrieb und Marketing“ klappt sich von der Kehrseite her. „Qualitätsmanagement und Hygiene“ sind Themen des Spielzeugs neben „Küchensoftware“, „Einkauf“ und „Service“. „Falls es mal langweilig wird“, hatte die Vertreterin von ‚Eigenregie‘ gewitzelt, als sie ihren Werbegag auf die Pulte schmuggelte.

„Die sind so viele und so alt, da können wir nichts machen“

Ministerin Barbara Steffens spricht kraftvoll und eindrücklich, malt mit ihren Worten ein gesellschaftliches Bild von Demenz, wie es inzwischen sogar in Film und Fernsehen Programm sei. Doch abseits von Til Schweigers Honig im Kopf, so wird nach dem Einstieg der Ministerin schnell klar, sind es vor allem die Grauwerte, die Realität von Demenz wirklich ausstrahlen können. Steffens ist überzeugt, dass sich Demenz noch besser gestalten, dass sich „ein würdevolles Leben in der Familie wirklich lebendig integrieren“ lässt, ohne „falsche Realitäten“ zu illusionieren.

Dampfende Lokomotiven in der High Definition-Qualität eines Plasmadisplays rauschen am Fenster eines Seniors vorbei. Er glaubte, sich im 21. Jahrhundert zu befinden. Nun kann er sich nicht mehr sicher sein.

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Die Ministerin zeigt sich anerkennend angesichts der Ergebnisse in Sterkrade. Demenz als ‚Thema‘ habe von der Praxis her eine Ebene geöffnet, auf der man nun weiter auch grundlegend fragen könne: „Wie müssen wir unsere Gesellschaft verändern? Wie genau ist der richtige Umgang? Was ist Normalität und gibt es die eigentlich?“

Steffens zieht mit Fallbeispielen die Zuhörer in ihren Bann und macht sehr deutlich, dass sie selbst Demenz nicht als Defizit oder Krankheit betrachtet, sondern als integrierbare Lebenssituation in Familien. „Es geht um Verantwortung im Quartier“, sagt Steffens und zeichnet eine Anekdote von dem rührendem Alltag eines Menschen nach: Der will im Kreditinstitut seines Vertrauens einen Schatz abholen, im Pfarrheim Tierfutter kaufen und wird sowohl von der Finanzkauffrau als auch vom Pfarrer persönlich abwechselnd nach Hause gebracht. „Geschichten wie diese müssen Realität werden“, und dazu gehöre es, so Steffens, „Geiz nicht geil zu finden, Tabus einmal wirklich aus der Ecke zu holen und Scham abzulegen“, entpuppt die Ministerin zunächst scheinbare Plattitüden als Kernproblem unserer Leistungsgesellschaft mit all ihren Störungen. Demenz zu integrieren erfordere es, Hilflosigkeit zu erkennen, um in allen Lebensphasen selbstbestimmt Älterwerden zu ermöglichen, und vor allem „mit diesem Äterwerden umgehen zu lernen“, sagt Steffens, deren Mutter selbst an einer Parkinson-Demenz erkrankt war: „Die Menschen müssen anfangen, sie müssen einander zeigen, wie es auch anders gehen kann, um Gesellschaft umzubauen.“

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Die Kinder sind inzwischen in ihren Schaumstoffburgen verschwunden. Vermutlich essen sie gerade zu Mittag, putzen Milchzähne und purzeln in den Mittagsschlaf. Ein Ball ist vor dem Zaun zum Stillstand gekommen. Er wartet dort, bis das nächste Mal ein Kind ihn ins Rollen bringt.

Abseits von UN-Behindertenrechtskonvention und Demenzdorf lautet Steffens Devise: „Dann lieber weniger leben mit mehr Lebensqualität.“ Immer wieder macht die Ministerin klar, dass die Frage ganz einfach sei: „Was wäre meins, was deins?“ Man müsse sich einfach fragen, wie man im Alter selbst gern leben würde. Nur wenn man frage: „Was braucht der Mensch, dass er glücklich ist?“, wenn man „in die Begegnung hineingeht“, so Steffens, könne man Medikamente durch sozialen Zusammenhalt und Emotionalität ersetzten, „dann stellt man den Menschen in den Mittelpunkt, das wäre für uns alle gut –.“ Eine Wohnungsbaugesellschaft stelle eine Wohnung, aber damit sei es nicht getan, wie die grüne Politikerin beispielhaft fortfährt und auch auch erklärt, dass Fitte und Unfitte einander bereits jetzt hälfen: zum Beispiel die junge, sich überfordert fühlende Mutter dem Rentner, der in der Unterstützung eine neue Form der Sinnerfüllung erleben könne. „Wer weiß also besser“, bringt Steffens zwei scheinbar nebeneinander stehende Lebenssituationen auf gemeinsamen Punkt, „wie wir alt werden wollen, als wir selber?“ Am besten wisse man das im Verbund, schließt die Ministerin mit einer Anekdote eine Festivals aus Spanien, dem die policía nur resigniert entgegengebracht habe: „Die sind so viele und die sind alt, da können wir nichts machen.“ Das Auditorium lacht und applaudiert.

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Elke Riedemann vom Demenz-Servicezentrum stellt sich vor und resümiert die Themen, die man sich noch vor zwei Jahren gestellt habe: „Was können wir tun für die Menschen im Quartier?“ war da eine Frage und eine andere „Was möchten wir? In welche Richtung möchten wir gehen?“. In seinem Tagesgeschäft kümmert sich das Zentrum, das Riedemann für die Region Duisburg-Mitte, Süd und Mülheim an der Ruhr vertritt, um die konkreten Probleme von Menschen mit Demenz, unternimmt es, deren Sorgen und Bedarfe zu verstehen und zu vermitteln: „Welche Unterstützung kann man Schritt für Schritt geben?“ tauche als Arbeitsauftrag immer wieder für das Mitglied der Landesinitiative Demenz-Service Nordrhein-Westfalen auf. Im Rahmen des Symposiums heute wolle man nun weiter gehen, vor allem „Stolpersteine“ des Alltags aus dem Weg räumen.

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Sabine Lauxen, Beigeordnete des Dezernats Umwelt, Gesundheit und ökologische Stadtentwicklung Oberhausen spannt in ihrem Vortrag ein ganzes Tableau aus städtebaulichen Visionen auf. Bequeme Sitzbananen out door, variable Turngeräte und Spielmodule würfeln sich in der Rede der grünen Politikerin locker nebeneinander, bauen einen Spielplatz, der Jugendliche und Senioren gleichermaßen an der frischen Luft in Bewegung versetzen kann. Menschen unterschiedlichen Alters seien schon dann zusammengebracht, so Lauxen, wenn es keine baulichen Barrieren gibt. Denn auch junge Mütter und Kleinkinder sind auf jahreszeitlich unabhängige Angebote im Freien angewiesen. Auf einem ‚Mehrgenerationenspielplatz‘ kommen sie in Rotation, können drehen, kreiseln oder wippen, für den Kreislauf, für den Moment, für das Spiel. Das ist so simpel wie überzeugend: Altersgerechte Bewegungsangebote können entlasten, ganz nebenbei auch die Krankenkassen, „sie lassen demente Menschen ‚Stadt‘ erleben“, wie die studierte Politikwissenschaftlerin zusammenfasst. „Dynamisch und grün wird Oberhausen werden“, macht Lauxen ihre Forderung klar, „denn Städte können sich nicht mit einem Citybüro allein ‚reinwaschen‘“. Zu einem gesunden und interaktiven Oberhausen gehöre, dass sich Einzelhandel und Gesundheitswirtschaft auf Demenz einstellten. Städtebauliche Ideen sollten, so Lauxen, mit den Menschen selbst umgesetzt werden. Zu einer gesunden Stadt gehöre ein Zentrum, das für den ‚Turnschuh‘ wie die ‚Gehhilfe‘ gleichermaßen anziehend wirke. „Treff-“ und sogenannte „Bewegungspunkte“ könnten das sein, das Schwimmbad zum Beispiel, das rutschfest und einladend für alle Menschen werden solle, auch die Schule so ein Ort, von dem aus Kinder gesundende Impulse an ihre Eltern weitergeben und verbreiten könnten. Die Stadtteilbibliothek werde, so scheint sich Lauxen richtig selbst zu freuen, zu einem generationsübergreifenden Lernort, an dem man Lebensmittel beim Wachsen zusehen könne. „Jung und Alt bauen bereits Gemüse an und ziehen Kräuter“, bilanziert Lauxen über ein Stadtgarten-Projekt. Wer auch hier vorauseilend schon das Scheitern einbezöge, werde von Sterkrade eines Besseren belehrt. ‚Broken Windows‘ gebe es hier nicht, „vielleicht ein zwei Kippen in einem der Kübel und das war`s. Deswegen erst gar nicht anfangen?“

Kinder bauen Sandburgen, während Senioren allmählich ihre eigenen Schlösser rückmauern müssen. Aber hier, in der gesunden Stadt, können sie aus der Lebensphase des anderen schöpfen. Ich sehe durch die große Glasscheibe auf das morgendlich Treiben der NAKiTa in ihrem Garten. Ein Kind sitzt mit vor Aufregung aufgepusteten Wangen auf einem Wackeltier, während ein Erzieher es aufmunternd anlacht.

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Schätze suchen, älter werden

Holger Eichstaedt nutzt den Rednerwechsel zum Ändern der Kulisse. Zwei säulenhafte Pflanzgefäße werden vom Pult abgerückt, „damit ich nicht durch die Blume sprechen muss“, wie Eichstaedt, eine Schlüsselfigur für Sterkrade, in eisbrecherischer Sympathie das Gras nicht lange wachsen lässt: „Wir sprechen gern von unserem Revier“, steigt er ein und bilanziert ganz selbstbewusst seit den Anfängen des von ihm geleiteten Demenz-Netzwerks: „Eine Tradition beginnt mit der ersten Wiederholung“. Eichstaedt nimmt aus seiner Perspektive der konkreten Leuchtturmprojekte vor Ort die Stadt in die Naheinstellung: „Es geschieht in der Nachbarschaft bei uns im Quartier, wo man sich mit Handschlag begrüßt, wo die Abweichung von Gewohnheiten und Ritualen gleich auffällt, ‚Wo ist Marta?‘“ Über 30 Standorte werden inzwischen im Quartier angelaufen, berichtet Eichstaedt, und zwar von Menschen, die Beratung suchen, ja, die Beratung finden, weil man dort berate, wo die Menschen leben!

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Stimmen aus Politik und Forschung melden sich zu Wort, betonen, dass Haltungen geändert werden müssen, bevor sich politische Strukturen sichtbar modifizieren können. Um Gesetze und Rahmenbedingungen auf Landesebene aufzubrechen, müsse man zeigen, dass sie auf Bundesebene funktionieren. Schnell geht es in einer aufkommenden Diskussion um Geld, um Pflegemanagement und die Krankenversicherung, noch schneller aber wieder um Muskelarbeit. Charmant weist Welbers auf „Schokoladentresörchen“ auf den Tischen, in Goldpapier verpacktes Nougat als Symbol „für die Schatzsuche im Alltag“.

Einer dieser Schätze, der bereits gehoben wurde, heißt Gesellschaft leben. Es ist ein Projekt der Stadt Oberhausen unter der Leitung von Andrea Stromenger, ein auf ehrenamtliches Engagement gestützter Besuchsdienst für Menschen, die allein leben oder eingeschränkt sind: „Wir sind ‚für schön‘, wir verbinden die Menschen“, bringt Stromenger auf den Punkt. Delia Brozda und Beate van de Leest, beide Mitarbeiterinnen der Gute Hoffnung leben und wohnen, engagieren sich im Quartiersmanagement und organisieren Gruppentreffen speziell für Menschen mit einer beginnenden Demenz. Birgit Pawlawzyk-Wegener vom Katholischen Klinikum Oberhausen stellt sich mit der gerontopsychiatrischen Beratungsstelle vor, Georg Pochwyt hat niedrigschwellige Angebote in Sterkrade ins Leben gerufen und von Susanne Hoppe erfahren wir von dem Projekt fit für 100, einem Sportangebot für Menschen im Stadtteil, das Mobilität durch aktive Bewegung fördert. Petra Gozdz-Gebauer von der Firma pro vie steht für eines der Leuchtturm-Projekte in Oberhausen. Aufmerksam macht die besonders auf das Atelier einzig-ART.ig in Sterkrade, in dem Senioren stricken, häkeln und sich auf kreative Weise ausdrücken können.

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Die Gäste des heutigen Symposiums sind bunt gemischt: Von Privatleuten mit einem Fußweg von einer Minute Luftlinie über kulturpolitische Sprecher bis hin zu Mitarbeitern von Pflegeeinrichtungen und Verbänden, die hier leger ihre Kontakte knüpfen. Professor Dr. Rolf Heinze von der Ruhr-Universität Bochum und Dr. Bernhard Holle vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen am Standort Witten sind gekommen, um einen Einblick in ihre empirische Arbeit zu geben. Sie arbeiten mit Welbers und seinem Team eng zusammen, um wissenschaftliche Erkenntnisse mit praktischen Möglichkeiten zu verbinden, um lebensnahe Konzepte für Menschen und Angehörige in die Tat umzusetzen.

„Netzwerk“, „Transparenz über die Stadtgrenzen hinaus“ und „Nachhaltigkeit“ – das sind in dieser Kooperation nicht nur Modewörter oder Antragsprosa, sondern echte Arbeitsziele aus Theorie für Wirklichkeit.

Im Zentrum steht in beiden Wissenschaftsvorträgen die Frage nach dem Lebensraum: Was benötigen Menschen mit Demenz? Was brauchen ihre Angehörigen und ihre Begleiter?

Nicht abgeheftete Papierstapel und Tablettendosierer – Kompositionen aus Gegenständen, die nicht zusammen gehören – Spülgeschirr. Ein Stillleben des Alltags. Und dazwischen steht ein Mensch, der vergessen hat, wofür all die beschriebenen Haftpapierchen sind.

Bedarfe in der Forschung: Normalität im Alltag

Bernhard Holle trägt vor. Er ist Leiter der Wittener Arbeitsgruppe „Versorgungsstrukturen“ und geht unter dem Leitspruch „Ageing in place“ der Studienlage zum Thema ‚Demenz‘ auf den Grund, interveniert mit seiner Forschung gegen eine „Institutionalisierung“, das heißt Abschottung von Demenz in unserer Gesellschaft.

Holle und sein Team fragen nach den sogenannten „menschlichen Bedarfen“ und welche Aussagen über diese Bedarfe in der Forschung bislang getroffen wurden – dabei handelt es sich zum Beispiel um Ich-Bedürfnisse und Selbstverwirklichung, die sich von den sogenannten „Bedürfnissen“, wie etwa der Pflege durch Angehörige, klar unterscheiden. Tatsächlich gebe es nur wenige Studien, die wirklich aus der Sicht von Menschen mit Demenz diese Bedarfe widerspiegeln können: „Bedarfe zu empfinden und zu äußern“, so Holle, „ist nur in einer frühen Phase der Erkrankung möglich. Der größte Teil der Menschen mit Demenz“, fährt der Pflegewissenschaftler fort, „lebt zu Hause, aber nicht jeder kann all seine Bedarfe selbst äußern“ – geschweige denn es bis in die wissenschaftlichen Publikationen und damit zu Holles Aufmerksamkeit schaffen. Die Bedarfe zu ermitteln ist deshalb die zentrale, standortkritische Herausforderung und zugleich auch ethische Reflexion der Arbeitsgruppe. Deren Ergebnissen muss sich auch die Gesundheits- und Versorgungsplanung der Länder stellen. NRW hat mit Fördermitteln bereits entscheidende Signale gesendet.

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Die durch das Sozialgesetzbuch V getragenen Leistungen decken bislang vor allem (Grund)bedürfnisse ab.

Durch Demenz verunsicherte und emotional instabile Menschen wollen ernst genommen werden, sie wollen verstanden werden und Sicherheit durch ihr nahes Umfeld erfahren. Zugleich erleben sie Verluste von Beziehungen und Aktivitäten. Und dabei wollen sie, dass Normalität und Persönlichkeit erhalten bleiben. Die Kernfrage ist also: Decken unsere Strukturen die tatsächlichen Bedürfnisse wirklich ab?

„Das gemeinsame Verstehen und die Aufmerksamkeit für Menschen mit Demenz zu schaffen ist das“, so schließt Holle seinen Werkstattbericht, „was mich antreibt“.

Eine Frau spricht mich in der Kaffeepause an. Sie ist Rosemaries Tochter, wie ich erfahre. Ihre Mutter vermisse das von mir geleitete Erzählcafé sehr, das wegen meines Babys gerade für vier Monate pausiert. Rosemarie hat im Streuselkranz nicht nur aus ihrem Leben er zählt. Anhand von Rüdesheimer Kaffeetassen hat sie mir gezeigt, wie man in der kalten Jahreszeit über die Runden kommt und Babysocken nach einem Modell häkelt, das heute kaum noch einer kennt.

Schlüsselfiguren für junge Quartiere im Alter

Professor Heinze tritt hinter das Rednerpult. Der Soziologe mit einem Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft referiert über den demografischen Wandel und über die Herausforderungen, die sich der Quartiersentwicklung stellen. „Mit Wohnquartieren müssen sich Gesundheits- und Sozialpolitik heute beschäftigen, wollen sie Menschen mit Demenz realitätsnahe Bedingungen gestalten“, startet Heinze. Denn nicht nur alte Menschen seien stark an den Sozialraum gebunden, gerade junge, mobile und flexible Menschen, die sich aus der traditionellen Mehrgenerationenfamilie gelöst haben, sehnen sich nach lokaler Identität, konstatiert der Wissenschaftler. In diesen Bedürfnissen – und vielleicht auch Sehnsüchten – liege Potenzial und Perspektive, wie Heinze anhand bereits bestehender Kooperationen und möglicher Synergieffekte für Prävention und Rehabilitation zeigen kann.

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Heinze – vielfach Mitglied von Komissionen zum Thema Alter in all seinen Dimensionen – präsentiert in seinem Vortrag, wie Wissenschaft und Praxis auf der einen Seite und Jung und Alt auf der anderen ineinandergreifen und liefert Einblicke in die Empirie der Quartiersnetzwerke: „Engagement wird zwar wichtiger“, bestätigt Heinze, „doch realisiert es sich in Nahbeziehungen und kleinen Gemeinschaften“. In denen können Menschen gestalterisch wirken und Sinnerfüllung erleben. Das Ehrenamt stehe zwar bereits auf einem schmalem Grat zur Erwerbsarbeit und lasse sich nicht einfach funktionalisieren. Den gegebenen Wandel zum Social Entrepreneurship zu nutzen und zu organisieren erforderte aber doch auf kommunaler Ebene, dass verschiedene Ressorts synergetisch zusammenarbeiten. Dazu brauche es, so schließt Heinze, vor allem Schlüsselfiguren.

Ich sehe den Abdruck eines Vogels an einer der großen Glasscheiben des Vortragsraums. Anhand der fettigen Spuren seines Gefieders, das den Sturz aus der Flugbahn abgefedert haben mag, kann man sehen, wie umfänglich seine Flügelspannweite war.

Die Schokoladenschätze sind inzwischen geschmolzen. Ein Mann lächelt verschmitzt. Er hat sich auch die anderen Schokoladen der freien Plätze neben ihm gesichert, als ein Männertrio mit Gitarren und Schwung den Raum betritt. Eichstaedt, Welbers und Özcelik vom Büro für Chancengleichheit lassen ihre Workshopsräume abtrennen.

Salutogenes Kohärenzreservoire ‚Fußballclub‘

In einem Raum bleibt ein Tisch stehen, darauf eine Kiste mit bonbonfarbenen Post-its und dicken Stiften. Den schwarzen zückt Welbers im Vorbeigehen, rupft seine Kappe und stellt sich vor die Tafel: „Wir suchen nach den besonderen Bedingungen und vielleicht auch Kompetenzen, die wir haben“, gibt Welbers unversehens an, „bei uns treffen sich Politik, Bürger und Kaufleute in einer komfortablen Lage“, greift der Pflegewirt eine der Privilegien Sterkrades vor, während die schwarze Filzspitze an der Metalltafel ansetzt. „A B I – K A P“ schreibt sich das Akronym aus „Altruismus Bürgerschaft Institutionen – Kommunikation Affinität Person“, den Komponenten für ‚Salutogene Kohärenzreservoire‘, wie Welbers schnell an die Tafel schmuggeln will, als schon erste Verständnisfragen protestieren. Frei übersetzt seien mit dem Zungenbrecher „gesundheitsfördernde und gesundheitserhaltende Potenziale und Speicher“ gemeint. Jeder Buchstabe des Kurzwortes ABI-KAP stehe dabei für einen Treiber, erklärt Welbers und erntet Zustimmung, Korrekturen und Ergänzungsvorschläge aus dem Plenum: zur Relativität der Begriffe und ihrer Stellung zueinander, zum gemeinsamen Wirken von Menschen, Institutionen und den Spannungen dazwischen. Deutlich wird in diesem Workshop über die Treiber für demenzfreundliche Quartiere: „ABI-KAP“ dient Sterkrade noch als Begriff der Selbstverständigung und -reflexion. Irgendwann wird er eine Bedeutung und damit selbst Treiber für erfolgreiche Quartiersarbeit geworden sein. Bürgerschaftliches Engagement ist der Anfang einer Gleichung, für die auch Theorie unerlässlich ist. In der Praxis macht man einfach, wie die anderen Ideen Özceliks und Barbara Zillgens vom Stadtteilbüro Sterkrade zeigen: Einkaufsdienste oder eine „Bimmelbahn“ über die Fußgängerzone zum Beispiel, die Beweglichkeit im Stadtteil fördert. Als die Wände wieder hochgefahren und die Ergebnisse der Workshops zusammengetragen sind, ist klar:

Hilfsbereitschaft ist jedermanns persönliche Sache. Und der Bäcker um die Ecke, der Sportverein des Vertrauens, sie alle können Anstöße geben für demenzfreundliche Quartiere.

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All I have to do: Kunst rauslassen

Die Abschlussdiskussion wird eingeläutet. Eine Frau mit blondem Kurzhaarschnitt ergreift zaghaft das Wort, deutlich und klar, aber langsam und vorsichtig. „Ich bin Christa Clees“, stellt sich die zarte, sympathische Mülheimerin vor und sagt Kirsten Beukenbusch ins Mikrofon hinein, ein bisschen so, als würde sie ihre Worte zum ersten Mal hören und gleichzeitig anzweifeln „ich bin dement“. Von Stehtischen neben dem Rednerpult aus erzählt sie von der Dementigruppe in Duisburg, mit der zusammen sie Exponate für das Ruhrkunstmuseum geschaffen habe. Stolz berichtet die Bewohnerin der Siedlung Heimaterde: „Da konnten wir unsere ganze Kunst rauslassen!“ Beukenbusch fragt Clees, ob es ihr schwer falle, über ihre Demenz zu sprechen. Da nickt Clees in einer Mischung aus Zustimmung, Frage und Zweifel: „Es ist mir –peinlich!?“

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Scham oder Verständnis, Ungeduld oder Entgegenkommen, das seien zentrale Gegensatzpaare von Demenz im Alltag, da kann Schlagböhmer als Sterkrader Kaufmann einige Momentaufnahmen aus dem Alltag liefern: „Höflich zu bleiben in Situationen, wenn jemand hilf- und orientierungslos ist, Aufmerksamkeit eigentlich dringend braucht, andere Kunden aber schon drängeln, ist die grundlegendste Herausforderung für meine Mitarbeiter.“ Schlagböhmer fordert deshalb Schulungsangebote, die nach Geschäftsschluss dem Personal helfen, sich selbst zu sensibilisieren und andere auf das Thema Demenz aufmerksam zu machen, nach dem Prinzip ‚train the trainer‘.

Es werden noch viele Aspekte angerissen, die bereits Lust auf ein nächstes Symposium machen. Welbers reicht zum Ende des heutigen jedem Referenten Pralinen und Bücher als Dank. Dabei erkundigt er sich, ob Mandel okay ist oder Unverträglichkeiten bestehen. Im Hintergrund schmeißt das Männertrio, das sich augenzwinkernd als Coverband „One Bass and two Guitarrist“ vorstellt, seine Instrumente an. Evergreens stimmen sich ohne großes Aufsehen in dem satten Raunen des Publikums an. Der Bandleader erklärt Creedence Clearwater als festes Repertoire in der eigenen Familie, besonders an Weihnachten erweise sich „Omma in ihrer Traumwelt“ als „textsicher“, gegen den Krieg sei die allemal. Die etwas rauen Kommentare erklärend schiebt der Musiker im sympathischen Jargon des Ruhrpotts nur noch hinterher: „‚Nur die Harten komm‘ in‘ Garten!‘“, dann packt er die Seiten feste zu und startet mit Bad Moon Rising: „I see trouble on the way“, heißt es da und: „There’s a bad moon on the rise“. „Die haben viel durchgemacht in den 60ern“, ruft er immer mal wieder zwischen die Liedzeilen, was aber gar nicht nötig ist, denn die Gäste schunkeln und singen wie beseelt mit. Manch einer unter ihnen könnte wohl noch aus eigenen Erfahrungen ins Erzählen kommen.

 

Wenn das erste Symposium noch von der „Vision“ gesprochen hat, kann man sich gemessen an all dem, was in den letzten zwei Jahren geschehen ist, vielleicht doch kurz einfach nur zurücklehnen und so ein bisschen frohlockend schmunzeln, „Wie isset mit den Everlys?“:

… and that is why / whenever I want you / all I have to do / is dream, dream, dream, dream…

 

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